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Gerhardt: r *a FerngefüM des Bünden. 61
Es ist nun fiL den psychologischen Forscher von höchstem
Interesse, zu untersuchen, wie es überhaupt möglich
ist, daß ein Mensch, der über keinerlei Sehvermögen verfügt
, in der Lage ist, sich allein auf die Straße zu wagen
uucl seine Wege führerlos zu erledigen. Vielfach sind hierüber
schon Aufsätze geschrieben worden, aber mehr oder
minder blieben alle an der Oberfläche haften oder gingen
von unrichtigen Voraussetzungen aus, die nicht geeignet
waren, die an sich wichtige Frage zu klären. Diese Tatsache
muß um so befremdlicher erscheinen, als die Zahl
der alleingehenden Blinden allenthalben eine recht beträchtliche
ist, so daß für entsprechende Beobachtungen genügende
Gelegenheit vorliegt. Indessen ist es mit de? Besaitung
allein keineswegs getan, denn dem Auge zeigen sich nur
„ Wirkungen *, deren letzte Ursachen jedoch selbst dem
schärfsten Beobachterblick verborgen bleiben, wenn dieser
nicht gleichzeitig über eine eingehende Kenntnis der Blin-
denpsychologie verfügt. Von Grund auf verkehrt ist es
natürlich auch hier, von „Zufällen* zu sprechen, die den
alleingehenden Bünden vor Gefahren behüten. Einen „Zufall
* gibt es im Leben des Nichtsehenden ebensowenig, wie
in dem des Vollsinnigen; mögen die Augen auch blind
sein, so ist doch das Schicksal nicht blind, das iho leitet
und dem er vom Tage seine* Geburt an untersteht.
Auf direktes Befragen, welcher Hilfsmittel sie sich beim
AHeingehen bedienen, vermögen auch nur die wenigsten
Blinden eine befriedigende Antwort zu erteilen, weil sie
unterwegs gleichsam instinktmäßig handeln und sich über
das Zustandekommen einzelner Wahrnehmungen oder Erscheinungen
selbst keine genaue Rechenschaft ablegen. Oft
auch fehlt es ihnen an der nötigen geistigen Schulung, um
ihre Empfindungen in die richtigen Worte kleiden zu können.
Somit bedarf es neben aufmerksamer Beobachtung eines
tieferen Eindringens in die Sinnes- und Vorstellungswelt
dos Nichtsehenden, wenn wir einiges Licht in die dunkle
Orientierungsfrage bringen wollen.
Als erstes und Hauptergebnis solcher Studien möchten
wir hier die Tatsache feststellen, daß der Blinde beim Gehen
ohne Führer seine sämtlichen verbliebenen Sinne in schärfster
Anspannung hält und gewissermaßen das gesamte
Nervensystem an die Stelle des fehlenden Auges einschaltet.
Natürlich nimmt auch hier das Ohr wieder eine hervorragende
Stelle ein, denn den Schallwahrnehmungen kommt
auf der Straße eine besondere Bedeutung zu, vorausgesetzt,
daß der Hörende befähigt ist, aus ihnen die richtigen und
notwendigen Folgerungen zu ziehen. Daß dies durchaus
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