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62 Psychische Studien. XLVL Jahrg. 2. Heft. (Februar 1919.)
nicht jeder beliebige Mensch vermag, kann täglich durch
Proben nachgewiesen werden. Man verbinde einem Sehenden
beide Augen vollständig und stelle ihn auf eine belebte, verkehrsreiche
Straße. Auch er wird Gehörswahrnehmungen haben
, aber die Stimmen und Tritte der Menschen, das Bollen der
Wagen, Straßenbahn- und Autosignale werden ihm zu einem
wirren Brausen zusammenfließen, das ihm nicht nur keinerlei
Möglichkeiten für die Orientierung bietet, sondern ihn vollkommen
verwirrt und hilflos macht Sein Ohr ist eben
nicht geschult, die mannigfachen Geräusche, die ihm lediglich
als Gesamtwirkung zum Bewußtsein kommen, zu analysieren
und die einzelnen Komponenten für sich gesondert
zu deuten und zu verwerten. Uebrigens ergeht es selbst
dem gewandtesten Bünden, der bisher in ländlicher Einsamkeit
und Stille gelebt und nur ruhige Wege passiert
hat, anfänglich nicht viel anders, obwohl fs ihm Schon nach
verhältnismäßig kurzer Zeit gelingen wird, auch über die
neue Situation Herr zu werden. *Je brausender der Verkehrslärm
ist, um so mehr muß natürlich der Blinde seine
Aufmerksamkeit anspannen, um so anstrengender ist es für
ihn, sich aller drohenden Gefahren zu erwelren. Dabei ist
es erstaunlich, mit welcher Sicherheit er vor dem Ueberschreiten
der Straße beobachtet, aus welcher Richtung sich
Fuhrwerke nähern, ob ihre Entfernung ihm noch die Passage
ermöglicht und dergleichen mehr. Selbst die Art einzelner
Wagen wird aus dem Geräusch erkannt, das sie
hervorrufen.
Gleichzeitig aber unterrichten ihn die Geräusche auch
über bestimmte Einzelheiten seiner Umgebung. Der Nieht-
sehende »hört*, ob er an einer Häuserreihe, einem Bretterzaun
, einem Eisengitter oder einer Hecke entlang wandert.
Ist sein Weg still und ohne fremde Geräusche, so muß er
selbst von Zeit zu Zeit für eine Schallwirkung sorgen, die
meist durch stärkeres Aufstoßen mit dem Stock oder lautes
Räuspern erzielt wird. Aus der Art nun, wie diese Schallwellen
sich verbreiten, gehemmt oder zurückgeworfen werden
, schließt er auf das Vorhandensein von Mauern usw.,
von deren ungefähren Höhe er sich ein Bild entwirft, das
für seine Orientierung nicht ohne Bedeutung ist.
Da aber nicht nur breite und hohe Gegenstände von
dem Blinden wahrgenommen werden, sondern er auch das
Vorhandensein von Bäumen, Laternen oder sonstigen unvermuteten
Hindernissen erkennt, ist man früh zu der Annahme
gelangt, daß es sich hierbei unmöglich um bloße
Gehörseindrücke handeln könne. Viele Blinde eigneten sich
im Alleingehen und im Vermeiden von Anstoßen, Stolpern
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