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t. Sehrenck-Notzing, Zur Psychologie des Gebets usw. 119
sein, daß die Vorstellung der erduldeten Mißhandlung mitunter
ohne Schmerzgefühl apperzipiert wird. Die analoge
Erscheinung findet man auf sexuellem Gebiet in der Algo-
lagnie (Sadismus und Masochismus». Heiler gibt zwar zu,
daß eingeklemmte Sexualaffekte, denen die natürliche Entladung
versagt ist, sich auf religiösem Gebiet einen künstlichen
Austritt, eine widernatürliche Befriedigung im Phantasieleben
suchen; aber er denkt dabei weniger an ein
wirkliches sexuelles Erleben (psyehosexueller Orgasmus)
als an die Benützung der sexuellen Liebe, als Bild des ekstatischen
Erlebnisses.
Bei Beurteilung dieser ganzen Frage fällt auch die
jedweder religiösen Askese eigne sexuelle Abstinenz schwer
ins Gewicht. Daß die mit dem Cölibat verknüpfte erzwungene
Unterdrückung des stärksten aller Triebe, des
Geschlechtstriebes, gewissermaßen im Sinne der Vergewaltig-
ung eines elementaren Naturprozesses nicht spurlos in
einem gesunden Organismus verschwindet, daß dieser gewaltige
Drang sich zu einer mächtigen Triebfeder in dem
ganzen psychischen Leben überhaupt und für die religiösmystische
Schwärmerei besonders umgestalten muß, dafür
liefert auch die psychoanalytische Forschung zahlreiche
Belege. Im eingeschränktem Sinn gibt Heiler wenigstens
eine Verstärkung der dem mystischen Erleben immanenten
Tendenzen zur Erotik durch echte natürliche Sexualaffekte,
deren normale Äußerung unterbunden ist, zu, ohne aber
der großen Bedeutung des sexuellen Faktors im religiösen
Leben genügend Rechnung zu tragen.
Ob, wie der Verfasser annimmt, in der spiritualisti-
schen Mystik, in der starke philosophische Motive wirksam
sind, die Gottesliebe von allen geschlechtlichen Affekten
und Regungen frei ist, im Gegensatz zu der mehr naiven
Mystik, das läßt sich wohl kaum mit Sicherheit aus den
historischen Berichten allein feststellen. Entsprechend m dem
für die Hysterie charakteristischen Wechsel von Über-
und Unterleistung findet man bei den mystischen Ekstati-
kern nach Heiler eine pathologische Steigerung des ganzen
emotionellen Lebens mit abnorm langer Dauer der affektiven
Äußerungen, wechselnd mit tiefer Erschöpfung bis
zur völligen Abgestorbenheit (psychischer Anästhesie).
Ein besonders lehrreiches Beispiel für die Richtigkeit
der Auffassung des Referenten bietet der Lebensgang des
großen kirchlichen Reformators Ignaz von Loyola *) In der
•) Näheres in Lomer (Dr. med.): Ignatius von Loyola, vom Erotiker iwa
Heiligen. Eine pathograpbische GescbichtsstucUc. Leipzig 1913. 187 Seiten.
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