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Kaindl: Eine Materialisations-Theorie. 168
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von Geburt hinein zu verfolgen. Es ist eine bekannte
Tatsache der Embryologie, daß die Entwicklung des Embryo
die Jahrtausende lange Entwicklung des Geschlechtes,
dem er angehört, in ihren Hauptumrissen wiederholt. Er
macht der Reihe nach die Formen durch, durch welche
hindurch sich seine Vorfahren entwickelt haben. Da die
materialisierte Form vornehmlich als das Werk einer so-
zialen Vereinigung zu betrachten ist, so sollte sie in ihrer
raschen Entwicklung analogerweise Stufen durchlaufen, die
durch einen stetigen Fortschritt in der Ausgestaltung sozialen
Verkehrs gekennzeichnet sind. Daß solche soziale
Hilfsmittel, wie Hände und Gesichter am leichtesten und
häufigsten gebildet werden, ist wenigstens ein Glied in
dieser Kette der Analogie. Die Entdeckung weiterer Glieder
würde unsere unfertige Hypothese allmählich in eine
vollständige genetische Materialisationstheorie umgestalten.
Eine solche Theorie würde eine Fülle neuer Fragen
hervorrufen, wovop euup» eine Antwort a priori anzudeuten
scheinen. Was ist z. B. der Mechanismus, durch welchen
das Material der Formen angehäuft und organisiert
wird? Welcher Art ist die physisle Verbindung fwischen
der Form und dem Medium, welche zu unterbrechen so
gefahrbringend (und in der Tat unmöglich) erscheint?
Was ist die äußerste Grenze, bis zu welcher organische
Prozesse beschleunigt oder der Vorgang der Materialisation
verzögert werden kann? Welchsr Grad einer solchen Ver-
«ögerung würde ausreichen, die Formen mit einer Dauer-
barkeit, gleich der unserer eigenen, auszustatten? Gibt es
irgendwelche Analogien mit der Materialisation in der
Tierwelt, und wenn nicht, warum nicht? (Vielleicht deshalb
, weil die Materialisation hauptsächlich ein kompliziertes
soziales Phänomen ist?)
Noch eine andere Frage ist von großer aktueller Bedeutung
. Was geschieht, wenn die Form, anstatt ver-
äußerlicht m werden, koextensiv mit dem Medium bleibt?
Es ist einleuchtend, daß alle die Phänomene des Tranceredens
, der Besessenheit und des automatischen Schreibens
sich unmittelbar daraus ergeben würden. Die genetische
Theorie würde folglich auch diese gewöhnlicheren und zugänglicheren
Phänomene in sich schließen und das automatische
Schreiben allein würde der Parthenogenesis entsprechen
.
Eine vollständige Theorie der Materialisation würde
notwendigerweise auf die physiologische Theorie zurückwirken
, die insoweit es sich um allerletzte Fragen der
Biogenesis handelt, zurzeit noch so dunkel ist. Hier ist
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