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Kaindl: Hans Driesch über Staat und Staatskunst. 237
in seinem unkultivierten Zustand — so viel Futter vorwerft, als
fünfzig gentigen müßte, so werden sie, anstatt friedlieh zu essen,
übereinander herfallen; jeder einzelne ist so gierig, daß er alles
für sieh allein haben will«. (In dieser menschlichen Eigenschaft
dürfte die wahre Ursache des sogenannten Weltkriegs liegen.)
„In einigen Feldern dieses Landes gibt es auch gewisse glänzende
Steine von:verschiedenen Farben, worauf die Yahus sehr
gierig sind. Auf den Feldern, wo jene kostbaren Steine im Überfluß
sich vorfinden, werden die heftigsten und häufigsten Kämpfe
geliefert, weil die benachbarten Yähus dort immerwährend Überfälle
ausführen ."
„Wenn zwei Yähus auf einem solchen Felde einen dieser
kostbaren Steine entdeckt haben, und wenn ein Streit entsteht, wer
der Besitzer sein soll, so nimmt ein dritter gewöhnlich den Vorteil
wahr und trägt ihn als sein Eigentum hinweg« — „Die Yähus eines
Distriktes benutzen eine passende Gelegenheit, die eiaes anderen
zu überraschen, bevor letztere vorbereitet sind. Ist aber ihr Projekt
mißlungen, so kehren sie nach hause und beginnen aus Mangel
an Feinden unter sich einen Kampf, den der zivilisierte Yähu einen
Bürgerkrieg nennt." — „In vielen Herden gibt es einen herrschenden
Yähu, der gewöhnlich häßlicher und boshafter als alle übrigen
ist. Dieser Führer nimmt gewöhnlich als Günstling denjenigen, der
ihm am meisten gleicht; das Geschäft dieses Günstlings besteht
darin, daß er an den Füßen und einem anderen Teil seines Herrn
leckt und die weiblichen Yähus in seinen Stall treibt. Er bleibt
gewöhnlich in seinem Amte bis ein schlimmerer gefunden werden
kann." —
Für den modernen Menschen hat das Spiegelbild, welches
Swift seinen Zeitgenossen in den Yähus vorhielt, seine moralisierende
Kraft verloren, denn während jene sich darüber noch
sittlich entrüsteten, wird dieser in dem Yähu nur den Urtypus des
Übermenschen erblicken. Jonathan Swift hätte sich vermutlich nie
träumen lassen, daß das abschreckende Bild, das er vom Menschen
entwarf, noch einmal zu dessen ideale werden würde;
konnte er doch auch davon keine blaße Ahnung haben, daß man
später einmal unter der Devise „Umwertung aller Werte" die
menschliche Moral auf den Kopf steilen würde.
Die auf den Kopf gestellte Moral oder Immoralität ist heute
tatsächlich die Moral, oder, besser gesagt, die Richtschnur der
zivilisierten Menschheit, welche ihr Denken und Handeln, ihr ganzes
Tun und Lassen bestimmt, und es ist schlechterdings nicht einzusehen
, wie so unter diesen denkbar ungünstigsten Bedingungen eine
heilsame {Reorganisation der Gesellschaft ohne eine vorhergehende
sittliche Wiedergeburt der Menschheit durchgeführt
werden könnte. „Ich kann leicht den Zusammenbruch der
vulgären Musketenverehrung mit ansehen", sagt Emerson, ob-
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