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260 Psychische Studien. XL VI. Jahrg. 4.-5. Heft. (ipril-Vai 1919.)
kann auch einen Bettrag aus eigener Erfahrung leisten. Ein junger,
sehr begabter Arzt, Prosektor an einem Krankenhause, der allgemein
als kommender Kathederstern erster Größe galt, erzählte eines
Morgens den Umstehenden, wie er geträumt habe, daß er gestorben
sei und an einem der beiden Sektionstisehe sich selbst an einer
bisher ganz unbekannten Krankheit seziere. Zwei Wochen später lag
er tatsächlich als Sektionsleiche auf dem betreffenden Tische. Eingehende
Spezialuntersuchung ergab dann, daß der so jäh aus seinen
Zukunftsplänen Herausgerissene tatsächlich an einer noch ganz
unbekannten Blutvergiftung, die durch einen rätselhaften Doppelgänger
des Pestbazillus verursacht wurde, gestorben war. Der
Zweifler wird in diesem merkwürdigen Traum nur eine unbewußte
symbolische Einkleidung des ärztlichen Wunsches nach Entdeckerruhm
erblicken, der gläubige Okkultist aber einen hellsehenden
Akt der träumenden Psyche.
c) „Kristallseelen." In Nr. 40 des „Vorwärts" v. 7. X. 17
schrieb ein Dr. M. K.: „Kristaliseelen", Ernst Haeekel's neuestes
Werk. Im Verlage von Alfred Kroen^r, Stuttgart, erscheint in
Kürze das jüngste Werk des Vierundachtzigjährigen, das zu vollenden
er sich eben anschickt. Die Kristalle galten noch bis zu
Anfang unseres Jahrhunderts als starre, leblose Naturgebilde. Die
Wissenschaft, die sich mit ihnen beschäftigt, die Kristallographie,
ist daher eine .»exakte", anorganische Naturwissenschaft, die sich
ihre Gesetze von der Mathematik vorschreiben läßt und mit dem
Leben nichts zu tun zu haben schien Die Disziplin aber, die sich
mit dem Wesen der beseelten Naturkörper beschäftigt, die Psychologie
, ist ein Teil der organischen Naturwissenschaften, der Biologie
. Eine tiefe Kluft schied das Gebiet beider. Da erschien das
Werk Otto Lehmann's (Eßlingen 1907) über „flüssige, also scheinbar
lebende Kristalle", das uns mit der erstaunlichen Eigenschaft
mancher Kristallgebilde bekannt macht, Funktionen auszuüben, die
wir bisher nur dem beseelten Leben zuzuschreiben gewohnt waren.
Gleichzeitig erhielt die Lehre von dem Seelenleben der Pflanzen
ihre feste, experimentelle Begründung durch den Berliner Haber-
Iandr, sowie durch Nemec und Franca. Der Münchener Richard
Semon stellte das unbewußte Erinnerungsvermögen, die „Mneme",
als das Dauernde im Wechsel des organischen «Geschehens hin.
In zusammenfassender Verwertung aller dieser neuesten Forschungsergebnisse
und gestützt auf langjährige eigene Untersuchungen
sieht sich Haeckel veranlaßt, den Grundriß einer neuen „biologischen
Philosophie" aufzustellen. In diesem spricht der greise Gelehrte
die Überzeugung von der Einheit aller Naturerscheinungen
aus, wie sie im Begriffe des Monismus ihren treffendsten Ausdruck
gefunden hat. Die Scheidewand zwischen totem anorganischen
und beseeltem organischen Dasein ist gefallen. Alle Substanz be-
stzt „seelisches Leben*. Mögen wir wohl noch zweifelnd vor dem
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