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Gftupp: Der Einfluß des Krankhaften auf das inncrpolit. Lehen. 293
gäbe dem tat twani asi der alten Inder einen neuen wissenschaftlichen
Sinn. —
Da Verfasser und Herausgeber des Nachlasses die entwickelte
Theorie noch nicht für abgeschlossen halten, dürfen
wir uns hier statt einer Kritik, mit der obigen Wiedergabc
begnügen.
Der Einfluß des Krankhaften auf das innerpolitische
Leben der Gegenwart.
Von Professor Dr. Gaupp (Tübingen).
Ober dieses zeitgemäße Thema spricht sich der verdiente
Vorstand der Tübinger Universitäts-NervenkKnik in der Beilage
zur „Ttib. Chronik* (Nr. 91 vom 19. IV. 19), vom Standpunkt des
erfahrenen Psychiaters, wie folgt, aus: „Unser Volk ist krank" —
diese Worte kann man jetzt häufig hören. Hervorragende Politiker
haben sie ausgesprochen, still beobachtende Ärzte ihnen zugestimmt,
und es hat nicht an Versuche* gefehlt, diese Auffassung auch tiefer
psychologisch zu begründen. Von der „Kriegspsychose" hatte die
Presse während all der Jahre des Völkermordens geschrieben, und
nun hallt es im Blätterwald wieder vom „nervösen" oder „seelischen
Zusammenbruch* des besiegten Deutschlands, das seinen Willen
und seine Arbeitslust verloren uftd der aufwühlenden und verhetzenden
Gewalt des russischen Bolschewismus keine Widerstandskraft
mehr entgegenzusetzen habe. In Zeiten gesteigerter
Erregung der Massen siegt nach dem sog. „Gesetz der Revolutionen"
jmmer die radikalere Forderung, und auf die Girondisten folgen
die Jakobiner. Die Jugend zieht es zu den extremen Lösungen,
die allein als konsequent zu befriedigen vermögen; man wird
entweder „ganz rechts* oder „ganz links", Die „Drehschaukelpolitik
" der Mitte gilt als laue Halbheit, die dem erregten Gefühlsleben
eines durch Hunger und Not tiberreizten Volkes nichts zu
bieten vermag. Nicht politische und wirtschaftliche Einsichten
verursachen das Abwandern breiter Volksmassen ins radikale Lager,
.sondern die erregte Leidenschaft neigt zum Extrem und verlangt
mit selbstherrischem Eigensinn für die nächste Stunde, was erst
in mühsamer Arbeit der Jahre zur Reife gebracht werden kann.
Jahrzehntelange Führer des Volkes und seiner Arbeiterschaft, die
in idealem Streben ihre ganze Kraft für die bessere Zukunft ihres
Volkes geopfert hatten, werden von den ungeduldigen Massen unwillig
beiseite geschoben, mit wilden Schimpfworten („Bluthunde"
usw.) überschüttet, ja mit dem Tode bedroht, weil sie nach Aufrichtung
eines demokratischen Staates es ablehnen, ihre Heimat
durch bolschewistische Experimente zu zerstören und nach erlangter
Macht die bürgerliche Welt zu knechten. Gewerkschaftsführer,
denen die heutige Arbeiterschaft vieles und bedeutendes verdankt,
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