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Gaupp: Der Einfloß des Krankhaften auf das innerpolit. Leben. 295
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Als im Frühjahr und Sommer 1918 nach blutigen und anfänglich
erfolgreich scheinenden Kämpfen der mit Spannung erwartete
Sieg ausblieb, als die rasch wachsende Übermacht des
Gegners zu einer enormen Anstrengung der Truppen zwang, und
als dann mit dem Gelingen der Foch'schen Gegenoffensive jede
Hoffnung auf ein baldiges glückliches Ende begraben werden
mußte, da schlug fast im ganzen Heer die schon maximal gesteigerte
, aber durch den Willen zusammengefaßte Spannung in ihr
Gegenteil um und ebnete damit jenen Einflüssen den Boden, die
dann in den Tagen der Revolution aus einem noch gut disziplinierten
Heer eine kampfunfähige, entmutigte, verbitterte und in ihren
Affektausbrüchen hemmungslose Truppe gemacht haben. Wer die
Gesetze der Massensuggestion kennt, der weiß, daß in solchen
Augenblicken das Verantwortungsgefühl sinkt, und daß dann die
radikalen Gedanken erregter und rednerisch geschickter Führer
in der Masse einen starken Widerhall finden. Aus diesen Massen-
suggestivwirkungen erklärt sich die in der Heimat wenig verstandene
Tatsache, daß die russische Einrichtung der Soldatenräte
fast nirgends auf Widerstand stieß, und daß unsere Armee schon
nach wenigen Tagen von all der Disziplin früherer Zeiten nichts
mehr erkennen ließ. Und auch dies war bemerkenswert, daß die
Soldatenräte der Etappe und der Ersatztruppenteile im Durchschnitt
weit radikaler waren, als die der pronttruppen, obwohl in diesen
Etappen- und Ersatztruppenteilen neben vielen Verwundeten und
Kränklichen auch sehr viele Personen waren, die noch nie im Felde
gestanden hatten und nie den zermürbenden und überreizenden Wirkungen
des langen und blutigen Kämpfens ausgesetzt gewesen waren.
Der Radikalismus dieser jungen Leute war nicht das Produkt eigenen
schweren Erlebens, sondern das Ergebnis antimilitaristischer Beeinflussung
, bisweilen auch der Angst, häufiger wohl der tiefen
Unlust gegen weiteres zweckloses Blutvergießen. Unter den Führern
dieser heimatlichen Opposition befanden sich viele Übernervöse,
explosive Psychopathen, fanatische Literaten, leider auch viele
durch ungerechte Behandlung Verbitterte. Namentlich der letztere
Umstand kann garnicht ernst genug angeschlagen werden. Ich
habe während der Wahlkämpfe des Dezembers und Januars bei
Besuch zahlreicher Versammlungen aller Parteirichtungen unter
den Wortführern extremster Richtung und unter den affektgeladenen
Störern eines ruhigen Versammlungsablaufes manchen „Kriegs-
neurotiker" gesehen, dessen überreizte Nerven durch persönliches
Erleben gelitten hatten. Gekränkter Ehrgeiz, nie vergessene Zurücksetzung
, Haß gegen einzelne Vorgesetzte hatten sich in
politischen Radikalismus umgesetzt, der jeden tiefen politischen
und wirtschaftlichen Denkens entbehrte. An sich harmlose Bauernburschen
aus begüterten Familien, die aber „den Kommiß gründlich
satt hatten", jubelten mit hochroten Köpfen jedem radikalen Kraft-
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