http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1919/0300
296 Psychische Btactien. XL Vi. Jahrg. 6. Heft. (Jurji 1919.)
wort begeistert zu und steigern sich in eine Gesetlschaftsfeindlich-
keit hinein, die angesichts der wirtschaftlichen Lage ihrer eigenen
Lebenskreise manchmal fast komisch anmutete. Man war erregt
und brauchte eben ein Objekt des Hasses. Er galt dem „Militarismus
" und — dafür sorgte die kluge Pa^teitaktik damit zugleich
auch allen bürgerlichen Kreisen ihres eigenen Volkes. Von
Besonnenheit und Urteilsfähigkeit war oft herzlich wenig zu entdecken
. — Zweifellos ist also das Heer nicht bloß durch die eigenen
schweren Erlebnisse, sondern ebensosehr auch durch heimatliche
Einwirkung im Sinne der Kriegsunlust revolutioniert worden. Erst
vor wenigen Wochen hat ein junger Tübinger Student aus dem
spartakistischen Lager in einer öffentlichen Versammlung sich
dessen gerühmt, daß er mit seinen Parteiangehörigen alles getan
habe, um die Front für die Revolution systematisch vorzubereiten.
Er setzte den auf ihn einstürmenden Pfuirufen ein ruhiges und
kühles Lächeln entgegen.
Neben diese zielbewußte Propaganda trat aber die allgemeine
seelische Erschöpfung einer unterernährten und enttäuschten Bevölkerung
und steigerte die Kriegsmüdigkeit und die dumpfe Wut,
die dann in den Revolutionstagen zu den bekannten häßlichen Ausschreitungen
gegen die bisherigen militärischen und staatlichen
Gewalten führte. Die Großstadtmassen erlagen kritiklos jeder
aufreizenden Massensuggestion, und selbst der greise und früher
allgemein hochgeachtete Monarch unseres schwäbischen Landes
blieb nicht von unwürdiger Belästigung verschont. Es wird erst
später einmal möglich sein, den Einfluß der chronischen Unterernährung
auf die seelische Beschaffenheit der Menschen genauer
abzuschätzen, da sich gegenwärtig die Folgen des Hungers zu sehr
mit anderen seelisch erschöpfenden und zermürbenden Umständen
verbinden. Übermäßige körperliche Anstrengung dürfte dabei ursächlich
weniger in Betracht kommen, als gemeinhin angenommen
wird. Denn die Leistungen unserer Truppen im Krieg haben uns
ja gezeigt, wie sehr wir in der Heimat durchschnittlich unter dem
Höchstmaß körperlicher Leistung zurückbleiben. Wichtiger ist die
chronische Gemütserregung: die Sorge und die erwartungsvolle
Spannung, der Kummer um die Veriuste der Besten, der
Schmerz über die sittliche Verwilderung und zunehmende Unehrlichkeit
weiter Volkskreise, die Empörung über das schamlose
Treiben der großstädtischen Kriegsgewinnler und endlich die dumpfe
Verzweiflung über die Erfolglosigkeit aller furchtbaren Opfer von
mehr als vier Jahren.
Krankhafte Seelenverfassung äußert sich vor allem in einem
langdauernden Überwiegen affektiver Erregung über das kritische
Urteil. Der Affekt macht blind, verengt den geistigen Horizont,
verzerrt das Weltbild, verhindert ein wahrhaft gerechtes Urteil»
So sehen wir gegenwärtig eine eigenartige Verschiebung des
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1919/0300