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Oaupp: Der Einfluß des Krankhaften auf das innerpolit. Leben. 297
sittlichen Empfindens und Handelns: eine extrem revolutionäre
Bewegung, die sich über das geltende Gesetz souverän hinwegsetzt,
gerät aus eigenem Willen mit den staatlichen Gewalten in immer
neue blutige Konflikte, die den Fortbestand unseres Staates und
Reiches ernsthaft in Frage stellen. Kommt es in den Abwehrkämpfen
bei wachsender Erbitterung zu bedauerlichen Gewalttaten,
so wächst die Empörung der Revolutionäre zu siedender Hitze4
während dieselben Revolutionäre die Verantwortung für die von
ihrer Seite begangenen, wahrlich nicht minder sehlimmen Gewalttaten
als unvermeidliche Begleiterscheinungen des revolutionären
Kairpfes achselzuckend beiseite schieben. Waren die Ermordung
der spartakistischen Führer Liebknecht und Luxemburg
und die Erschießung des bayrischen Ministerpräsidenten vom sittlichen
Standpunkt der Heiligkeit des Menschenlebens schlimmere
Handlungen als die Tötung des Offiziers, dem der Schutz der
Nationalversammlung anvertraut war, und der in gewissenhafter
Erfüllung seiner ihm aufgetragenen Pflicht bestialisch ermordet
wurde? Und wurde nicht Friedrich Adler, der planmäßig vorgehende
Mörder des wehrlosen Ministers, in Bern mit besonderem
Jubel empfangen? Wer immer wieder mit Emphase versichert,
das Wohl der ganzen gequälten Menschheit zu vertreten und ein
Reich der Liebe und Brüderlichkeit gründen zu wollen, der darf
nicht von jeder objektiven Gerechtigkeit soweit entfernt sein, wie
die gegenwärtigen Vertreter des Gedankens der Diktatur einer
einzigen Volksklasse. Nur ein krankes Gefühlsleben kommt
zu solchen Verzerrungen alles sittlichen Empfindens, ohne diese
Verzerrung in ihrer Schrecklichkeit selbst wahrzunehmen.
Leidenschaftliches Gefühl und gesteigerte Abwehrbereitschaft
gegen die Ungerechtigkeiten und Härten des Lebens waren andererseits
zu allen Zeiten die Bahnbrecher für große neue Gedanken
und mutige Taten, die menschliche Gemeinschaften aus dumpfen
Niederungen zu lichter Höhe hinaufführten. Psychopathen spielten
auch früher stets in den großen Zeiten menschlichen Fortschritts
eine bedeutende Rolle. Es sei hier nur an J. J. Rousseau erinnert.
Und so wird sich vielleicht auch aus dem Chaos der Gegenwart
unter der Mitwirkung nervöser Erregung begabter Führer eine
lichtere Zukunft entwickeln können, die alle Härte und Unbill ebensowenig
mehr erträgt, wie sie der Umwandlung der menschlichen
Gesellschaft in einen grauenvollen Zwangsstaat bolschewistischer
Herkunft aus innerster Seele widerstrebt. Aber das sind leider
nur sehr unsichere Hoffnungen. Für die Gegenwart scheint mir
doch der Satz zu gelten: Eine unheilvolle Verirrung einer krankhaft
erregten Volksseele führt Deutschland mit Riesenschritten dem
Untergang entgegen. Die Rachsucht des äußeren Feindes hat dafür
gesorgt, daß die physische Macht unseres Staates vernichtet ist.
Kanonen und Maschinengewehre haben wir abgeliefert; mit den
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