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360 Psychische Studien. XLV1. Jahrg. 7. Heft. (Jtüi 1919.)
simd, von kräftiger Konstitution und hat keinerlei abnorme
Erlebnisse. An jenem Abend allerdings fühlte sie sieh
nicht ganz wohl, am nächsten Tage legte sie sich zu Bett,
um einer etwaigen Grippe vorzubeugen Da sie keinen
Arzt konsultiert hat wegen der Geringfügigkeit des Unwohlseins
(die Temperatur ging nicht über 38 hinauf) und
in fünf Tagen wieder munter war, so handelte es sich doch
wohl nur um einen Katarrh (etwas Husten, Kopfschmerz
und Gliederschmerzen). Es scheint also in unserem Falle
nichts für eine Hyperästhesie des Gesichts zu sprechen.
Näher dürfte vielleicht die Erklärung durch Halluzination
liegen, deren Ursache auch nicht festzustellen wäre.
(Tnd zwar eine Halluzination, die hier mit der Wirklichkeit
(der räumlichen Anordnung und Gestalt der vorhandenen
Gegenstände) sich vollkommen deckt.
Aber nun wären wir bei dem Problem: was ist Halluzination
?, und dem anderen, wie mir scheint, noch viel
schwierigeren: was ist Wirklichkeit?
Halluzination kann man mit Prof. Staudenmaier („Die
Magie als experimentelle Naturwissenschaft* 1912) so kennzeichnen
, daß die normalen physiologischen Funktionen, die
die Wahrnehmung herbeiführen, bei der Halluzination in
gerade entgegengesetzter Richtung verlaufen, im Bereiche
des Gesichtssinnes also vom Sehzentrum der Hirnrinde zur
Netzhaut hin, und zwar unter Umständen noch über diese
hinaus, sodaß bei genügender Energie durch die Tätigkeit
der Netzhaut im umgebenden Äther Wellen entstehen und
daher wirkliches Licht erzeugt wird. Durchaus konsequent
führt Staudenmaier seine Betrachtung so weiter: Wenn wir
derart durch bloße Einbildung wirkliches Licht hervorbringen
können, „dann könnten wir es, ohne uns auf tiefgründige
Erörterungen über das Wesen der Materie zu
stützen, nicht prinzipiell für unmöglich erklären, vermittels
der Organe, welche uns die Materie wahrnehmen lassen,
auch umgekehrt Materie zu erzeugen.*
Nehmen wir diese Erklärung und »diese Konsequenz
Staudenmaiers an — und sie erscheint mir sehr beachtlich
—, dann ist das Kriterium: im Falle der Wirklichkeit
kommt das Bild von außen, im Falle der Halluzination
kommt es von innen, doch ein recht äußerliches, welches
das Wesen der Sache kaum berührt und daher von einem
strengeren Gesichtspunkte aus nicht als zureichend angesehen
werden kann. Zwischen Wirklichkeit und Halluzination
besteht dann für uns gar kein wesenhafter Unterschied
. Zumal wenn dazu noch die philosophische Reflexion
über Außen und Innen kommt: Kaumbegriffe, Funktionen
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