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418 Psychische Btudien. XLVI. Jahrg. K Heft. (August 1919.)
aufgenommen wird, und ebensowenig wunderbar dünkt es uns jetzt,
wenn dieselben Erfindungen und Ideen zu genau derselben Zeit
von den betreffenden Personen empfangen werden. Oder man
stelle sich das Auftauchen einer Neuerung, einer Idee derart vor,
daß mit Berücksichtigung der verschiedenen Grade der Empfänglichkeit
der Menschen nur eine Person, der nebenbei die
betreffende Sache am nächsten liegt und die zugleich sehr sensitiv
sein muß, den Eindruck erhält Diesen läßt sie in der Folge
in sich auswirken, sie verarbeitet ihn und gibt ihn dann, gewissermaßen
mundgerecht gemacht, an gleichartige Intelligenzen auf telepathischem
Wege weiter. Dieser Vorgang dürfte wohl am häufigsten
zutreffen. Ich deutete das Vertrautsein mit einer Sache an,
demnach werden im allgemeinen dem Künstler keine medizinischen
Entdeckungen und dem Arzte keine technischen Neuerungen bewußt
werden.
Nun gibt es allerdings merkwürdige Ereignisse, die dem zu
widersprechen scheinen. Ich erwähne hier die Vollendung des
von Charles Dickens unvollendet hinterlassenen Romans „Edwin
Drood* durch einen ungebildeten Mensehen, einen einfachen Handwerker
namens James. James war ganz unbelesen, hatte niemals
geschriftstellert und kannte noch nicht einmal den von Diekens
selbst geschriebenen Teil jenes Werkes. Trotzdem ist der zweite
Teil nicht nur vollständig im Geiste Dickens" verfaßt, er zeigt auch
alle Sonderbarkeiten des Stiles und der Rechtschreibung von
Dickens. Nun, hier haben wir eben ein Schreibmedium vor uns,
das im abnormen Bewußtseinszustande, im Halbschlaf, also unbewußt
rein mechanisch die Feder führte. Handelt es sich aber
darum, eine Sache nicht nur mechanisch wiederzugeben, sondern
zu verarbeiten, oder mit Goethe zu sprechen, hierfür die Mittelglieder
einer Gedankenkette zu finden, so wird nur ein
befähigtes Gehirn, das geeignetste, in Frage kommen, d. h. nur
dieses wird mit Erfolg beeindruckt.
Dies trifft auf die im vorletzten Aufsatze «August-September
1918) erwähnte Erfindung der Infinitesimal-Rechnung durch Leibniz
und Newton zu. Ein Laiengehirn konnte eventuell auch einen
Eindruck davon erhalten, aber, da die mathematische Anlage zum
Verdauen — wenn ich mal so sagen darf*— fehlte, ohne Nutzen
für sich und andere. Der Eindruck mußte verblassen, da der Laie
nichts damit anzufangen wußte, denn bei dieser Erfindung handelt
es sich nicht nur um mechanische Verrichtungen (Schreiben),
sondern um große geistige Arbeit, eben um die Mittelglieder der
Gedankenkette, die nur ein Wissenschaftler bei vollem Bewußtsein
finden kann! Die Sache ist nicht so einfach: hier heißt es auch:
„Viele sind berufen, doch wenige sind auserwählt!« Und so mögen
täglich gewissermaßen große Werte bis auf weiteres verloren
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