http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1919/0430
126 Psychische Studien. XLVI Jahr«: * Heft. (Aufruat 1919.)
ragespresse. Das ist der deutsche „Fortschritt" und die deutsche
Gründlichkeit usw. Irgend ein — leider nicht genannter! Nachzügler
des Materialismus scheint also für seine rückständigen Ansichten
in Graz ein dankbares Publikum gefunden zu haben.44 Ich
habe dem, was mein Freund über dieses Unterfangen bemerkt, nichts
beizuzusetzen, als den Originalbericht des „Neuen Wiener Journals44
vom 15. Juni 19 über einen Vortrag von Hofrat Wagner-Jauregg:
[„Eine telepathische Partie Domino. Eine Seance in der Gesellschaft
der Ärzte1*. Hof rat Wagner-Jauregg, eine Autorität auf exakt
wissenschaftlichem Gebiet, hielt dort am 13. VI. einen Vortrag über
Hypnose und Telepathie, worin er deren Bedeutung und Zukunftsmöglichkeiten
beleuchtete und zwei Wiener Telepathen, die Herren
Dr. Leopold Thoma und Hauptmann Rudolf Groß, vorfahrte, von
deren telepathischen Fähigkeiten er sich durch eingehende Ver-
>uche in seiner Klinik selbst überzeugt hatte. Die zahlreich anwesenden
Är/te, darunter fast sämtliche Wiener Psychiater, folgten
Jen \ erblüffenden Experimenten mit regstem Interesse]. Es liegt
mir selbstverständlich ferne, eine Autorität durch eine andere übertrumpfen
oder schlagen zu wollen, denn wenn der Mensch nicht
selbst soviel Verstand besitzt, um sich über Tatsächlichkeit oder
Nichttatsächlichkeit von Erscheinungen entscheiden zu kennen, so
wird er es auch mit Hilfe von Autoritäten nicht zuwege bringen;
aber eine Gegenüberstellung dieser beiden sich direkt widersprechenden
Offenbarungen der Wissenschaft erscheint mir namentlich
insofern lehrreich, als sie uns zeigt, daß die Wissenschaft
ihren Beruf, Belehrungen auszuteilen, in wahrhaft christlichem Geiste
erfüllt, indem ihre Linke dabei nicht zu wissen scheint, was ihre
Rechte tut und umgekehrt. — Es ist ja begreiflich, daß inbezug
auf Erklärung, Hypothese oder Theorie die Meinungen der Wissenschaft
auseinandergehen; aber über die Tatsächlichkeit von Erscheinungen
, die so alt sind wie das Menschengeschlecht selbst,
sollte sie sich heute denn doch schon einig sein; wenn sie.es aber
nicht ist, so sollte sie es wenigstens unterlassen, den Laien darüber
belehren zu wollen. Ist der Wiener Psychiater bezüglich der telepathischen
Erscheinungen einer gegenteiligen Ansicht wie Dr. Wagner-
Jauregg, so hat er sich darüber mit ihm — aber nicht mit einem
Laienpublikum — auseinanderzusetzen. Die Sache ist vom wissenschaftlichen
Standpunkte aus betrachtet für die Öffentlichkeit einfach
noch nicht spruchreif. Allerdings mag es leichter sein, ein
gedankenloses Publikum für seine Ansicht zu gewinnen, als einen
Gegner aus dem eigenen Lager, der sich ihm im voraus überlegen
zeigt, indem er über das schwere Geschütz experimenteller Tatsachen
verfügt. — Für den denkenden Laien war übrigens die Frage
über die Tatsächlichkeit der Telepathie schon längst in positivem
Sinne entschieden, da für ihn nicht allein der experimentelle Beweis
der Wissenschaft, sondern auch der historische Beweis maß-
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1919/0430