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470 Psychische Studien. XLVL Jahrg. 9. Heft. (September 1919.)
Auf dem Standpunkt des naiven Realismus erscheint
dem Bewußtsein die Sinnenwelt als das Reale, das Psychische
als eine Parallelerscheinung oder gar nur Spiegelung desselben
. Also das umgekehrte Verhältnis des tatsächlichen
Geschehens. Vom Physischen aus läßt sich die Kluft
zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt nicht
überbrücken. Auf dem Standpunkte des kritischen Idealismus
stehend, erfaßt man den Vorgang so vollkcmmen, daß er
aufhört ein Problem zu sein.
Die ganze Sinnenwelt mit all ihren Sonnensystemen
ist nur Erscheinung, raeine Vorstellung.
Das einmal Errungene ist unverlierbar. Mag auch der
Menschengeist, nachdem er in Kants Gehirn die innerlichste
Bewußtwerdung erlebt hat, in den Epigonen wieder in
Schlummer zu verfallen scheinen, er rafft sich nieder auf und
beginnt da, wo Kant die Kelle niederlegt, weiter zu bauen.
Hat die Metaphysik ein Ziel, dann führt der Weg über
Kant. Alle Versuche, ohne oder gegen Kant die Metaphysik
aufzubauen, sind von Grund auf verfehlt und aussichtslos
.
Wer Kant widerlegen will, beweist nur, wie sehr er
ihn mißverstanden hat.*)
Versuch einer Wertlehre unter Mitberück*
sichtigling des modernen Okkultismus.
Von Dr. Gustav Zeller (Harburg).
(>ehiutt vou Seite 4i2)
Daß einer so tiefgreifenden Umwälzung unserer Naturauffassung
und ganzen Weltanschauung nicht eine wenigstens bis zu einem
gewissen Grad neue Ethik oder Wertlehre zur Seite gehen wird,
wird wohl niemand, der die von mir gemachte Voraussetzung der
Wahrheit der okkulten Tatsachen teilt, ernsthaft bestreiten. Diese
Wertlehre, die sich aus der neuen Weltanschauung mit einer gewissen
Notwendigkeit ergibt, möchte ich nun mit wenigen Strichen
zu zeichnen versuchen.
Es muß einmal das moderne Erkennen, das in der Kirche doch
vielfach nur die Stellung eines Aschenbrödels einnahm, zu seinem
vollen ethisch-religiösen Recht gelangen. Dann aber muß auch
das Element der Mystik oder Gottesliebe, diese eigentliche Seele
der Religion, für die der Okkultismus wieder neues Verständnis
geweckt hat, die ihm gebührende Stellung in unserem Geistesleben
finden. Auch hier hat der moderne Protestantismus manches
*) Wir freuen uns aufrichtig an dem ebenso tief wie klar denkenden
Herrn Verfasser obiger philosophischer Studie einen nsuen geistig hervorragenden
Mitarbeiter gewonnen zu haben, — SchriftL
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