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Clericus: Eine Erscheinung
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scheinen mir bis heute höchstens Anhaltspunkte vorhanden:
es mag so widerspruchsvoll-bunt sein wie dieses Leben
auch — oder es führt uns einem bestimmten Ziel entgegen
. Wie will ich etwas darüber aussagen? Auch über
die Möglichkeit einer Begrenzung dieses Lebens? Ich
sehe mich auf Grund meiner Beschäftigung mit den
okkultistisch-spiritistischen Erscheinungen gezwungen, eine
geraume Zeitdauer dafür anzunehmen!
Eine Erscheinung.
Von Dr. Clericus.
Im Sommer 1918 erzählte ich einer hochachtbaren
Dame, die sich durch vornehmen Charakter und tiefe Religiosität
auszeichnet, der Frau Baronin von E. in B. (Oberfranken
) den merkwürdigen Wahrtraum des Bischofs Lanyi
von Groß wardein.*) Es fiel mir auf, daß sich während meiner
Erzählung die Baronin und ihre Tochter verstehende Blicke
zuwarfen. Auf meine Frage, ob die Damen vielleicht einmal
ähnliches erlebt hätten, berichtete mir Frau von E.
folgendes: Sie wurde vor mehreren Jahren an das Krankenbett
ihres schwer erkrankten Schwagers nach Schlesien gerufen
. Dort teilte sie sich mit der Frau des Kranken in
die Nachtwachen. Diese letztere schlief unmittelbar neben
dem Krankenzimmer und die dahin führende Türe stand
offen. Frau von E. saß gegen Mitternacht in diesem Zimmer,
in dem des Kranken Gattin schlief. M *n hörte kein anderes
Geräusch als die Atemzüge der Schlafenden und das Ticken
der Uhr. Die Wachende las in einem Buch und strickte.
Gegen 1 Uhr plötzlich hatte sie das Gefühl nicht allein zu
sein, schaute überall umher und — das Herz stand einen
Augenblick still — am Fußende des Krankenbettes stand
eine Lichtgestalt, sich dem schlafenden Kranken zuneigend.
Zärtlich sagte dieser im Traum: „Mutter, liebe Mutter!"
Frau von E. zitterte und doch war ihr Blick wie gebannt.
Nun rief sie der schlafenden Schwägerin. Die Erscheinung
war verschwunden, die Schwägerin aber sagte, das Gesicht
der Frau von E. betrachtend: „Also auch du hast sie gesehen
! Schon zweimal war unsere Mutter hier im Zimmer.
Ich habe meine Schwiegermutter nicht persönlich gekannt,
da sie schon 1858 heimgegangen ist.* Bald darauf erwachte
der Kranke und sagte: „Ach, das war schön, ich träumte
Mutter wäre bei mir.* Drei Tage darauf starb er. —
*) Vergl. »Psych. Stud.« 1918, S. 3241 465.
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