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568 Psychische Studien. XLVI. Jahrg. 10.-ll.Heft. (Okt.-Nov. 1919.)
Sehnsucht. Wenn sie's einmal haben - vielleicht erleben wir's,
geben Sie acht - und nun nichts mehr zu sehnen ist, so werden
sie frivol werden, die Hände reiben und sagen: unsere Heere
haben's ja besorgt, seien wir jetzt recht gemeine Genuß- und
Geldhunde mit ausgestreckter Zunge. . . . Nehmen wir's auch
nicht zu schwer, eine anständige Minorität zu bleiben; eine
Nation kann so was überdauern; es bedarf dann eines großen
Unglücks, und das wird kommen in einem neuen Krieg, und
dann wird's wieder besser und recht werden!"
h) Idiosynkrasie. Ursprünglich verstand man unter Idiosynkrasie
die „eigentümliche Mischung" der Körpersäfte, aus der die
alten Ärzte sich das verschiedene Verhalten der einzelnen Individuen
im gesunden und kranken Zustande erklärten. Heute aber
versteht man unter Idiosynkrasie gewöhnlich das merkwürdige
Verhalten einiger Menschen gegen besondere äußere Eindrücke,
das vor dem der meisten übrigen Menschen wesentlich abweicht
und etwas Krankhaftes und Unerklärliches an sich hat. So lieben
die einen einen Geruch, den andere verabscheuen; so kennt man
z. B. Menschen, die infolge des Genusses von Erdbeeren oder
von Krebsen Nesselsucht bekommen; andere können trotz des
Wohlgeschmacks gewisser Speisen diese nicht genießen, ohne
schwer zu erkranken. Wieder andere zeigen Widerwillen gegen
gewisse Farben, Töne usw. Gewisse körperliche Zustände sind
häufig durch Idiosynkrasie gegen Speisen, die sonst wohl gelitten
waren, ausgezeichnet. Die Ursache der sogenannten Idiosynkrasien
ist unbekannt, liegt aber wohl in einer nach gewissen Richtungen
hin abnorm gesteigerten Empfindlichkeit des Nervensystems. Hiermit
mag es zusammenhängen, daß die Idiosynkrasien bei den reizbaren
Frauen viel häufiger als bei den Männern beobachtet werden,
obwohl auch aus der Geschichte Fälle von Idiosynkrasien bekannt
sind, die ganz hervorragende Männer betreffen. Erasmus von Rotterdam
bekam das Fieber, wenn er Fische roch, Scaliger, der berühmte
italienische Philologe, zitterte, wenn er Milch sah. Du Chesne,
der Geheimsekretär Franz I. von Frankreich, bekam Nasenbluten,
wenn er Äpfel roch. Heinrich III. von Frankreich und Marschall
Schomburg konnten]nicht in einem Zimmer bleiben, in dem sich
eine Katze aufhielt. Ein Rat vom Nationalparlament in Bordeaux
wurde durch den Anblick eines Igels so aufgeregt, daß er zwei
Jahre lang das fast unerträgliche Gefühl hatte, als zerreiße ihm
der Igel die Därme mit seinen Stacheln. Julius Cäsar konnte die
Kresse nicht ausstehen und zitterte, wenn er das Miauen einer
Katze vernahm. Eine der sonderbarsten Idiosynkrasien aber hatte
der Philosoph Chrysippus. Er schwankte und fiel hin, wenn jemand
ihn grüßte und eine Verbeugung dazu machte. Wallenstein vermochte
ebenso wie Cäsar das Miauen von Katzen nicht zu hören,
ohne förmliche Nervenkrämpfe zu bekommen, während Mozart den
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