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616 Psychische Studien, XLVL Jahrg. 12« Heft (Dezember 1919.)
„Einzelstaat also ist ein durch den Inhalt gewisser
Bücher geregeltes seelisches Verhalten einer Zahl von
Einzelmenschen11 (8. 204). „Die einzelnen Staaten aber, so
wie sie bestehen, sind wirklich von „Vereinen* grundsätzlich
nicht unterschieden* (S. 203). Wie paßt diese über alles
Maß nüchterne und wegwerfende Definition des Staates zu
der Begeisterung, mit der viele Tausende in den sicheren
Tod gegangen sind? Opfert man auch sein Leben für
einen Verein oder für irgendwelche Bücher und Schriftstücke
, und wären es Verfassungsurkunden? Denken wir
uns das Wirken des Freiherrn von Stein oder Bismarcks
auf dieser Grundlage! Denken wir etwa auch, was die
Staaten des Deutschen Reichs in ihrer Gesamtheit an sittlicher
Erziehung, Förderung des Wissens, des Rechts und
der Ordnung bis vor kurzem noch geleistet haben, wie
überlegen sie sich hierin allen andern Staaten gegenüber
gezeigt haben! Wie konnten einem sachlichen, gewissenhaften
Beurteiler der Psyche der einzelnen „Kuiturstaaten*
diese ungeheueren Unterschiede entgehen? Wo gibt es,
selbst bei unseren Alldeutschen, einen so barbarischen
Chauvinismus, eine solche Herzlosigkeit und Heuchelei im
Dienste des Staates wie bei sämtlichen unserer demokratischen
Feinde, die doch angeblich im Namen der Humanität
die deutsche Reaktion und Barbarei niederzuschlagen sich
berechtigt fühlen? Man vergleiche den einzelnen deutschen
und französischen oder englischen Soldaten, die einzelne
deutsche, französische oder englische Zeitung. Ist es, wenn
man irgend sachlich bleiben will, erlaubt, über diese Unterschiede
hinwegzugehen ? Wenn irgend ein Staat bisher dem
von Driesch gezeichneten Idealstaat nahe kam. so war es
der deutsche vor und während des Krieges. Für diesen
mit aller Entschiedenheit eintreten, heißt praktisch, den
Idealstaat zu fördern mehr als mit allgemeinen Worten.
Noch mancherlei hätte ich gegen Drieschs Beurteilung des
Staates im allgemeinen anzuführen, so was er über Rasse
und Sprache als Grundlage des Staates sagt, S. 332. Mehr
noch scheint mir das, was er nicht sagt,* zu beanstanden
zu sein. Wo weist er darauf hin, daß <W Staat, auch der
empiiische Staat, also z. B. der deutsche Staat, um mich dieses
ungenauen Ausdrucks zu bedienen, zur Staatsgesinnung,
zur Aufopferung für das Ganze, zur Duldung fremder staatlicher
Eigenart, also zu wesentlichen Forderungen der
Humanität erzieht, tatsächlich erzogen hat (von der unmittelbaren
Gegenwart selbstverständlich stets abgesehen)?
Und wie will der Staat Ordnung halten ohne Autorität,
ohne Anwendung von Gewalt? Driesch beruft sich (S. 334)
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