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62 i Psychische Studien. XL VI. Jabrg. 12. Heft. (Dezember 1919.)
Einiges über Expressionismus, Bolschewismus
und Geisteskrankheit.
Von Dr. med. Hanns Kahle, Nervenarzt, Weimar.*)
Die expressionistische Kunstrichtung iu Plastik und
Malerei hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht das darzustellen
, was man sieht und so, wie man's sieht, sondern sie
will das darstellen, was sich der Künstler unter gewissen
Objekten und bestimmten Begriffen vorstellt. 80 will z. B,
der expressionistische Maler nicht den Menschen mit all
seinen einzelnen feinen Gliedern und Muskeln, nicht einen
Menschen von bestimmtem Körperbau, bestimmtem Gesichts*
ausdruck usw. malen, sondern er will den Begriff „Mensch*
darstellen, er will das malen, was man sich bei dem Wort
„Mensch*1 im Geiste vorstellt. Auch die, die nicht Anhänger
der expressionistischen Kunstrichtung sind, stellen sich bei
dem Wort „Mensch* nicht einen bestimmt gebauten Menschen
mit allen Einzelheiten vor, im allgemeinen nicht einmal ein
bestimmtes Geschlecht, Mann oder Weib, sondern em Bild,
das in seinen Umrissen und den am meisten in die Augen
springenden Formen dem menschlichen Wesen nahekommt,
das aus Körper, Kopf, Armen und Beinen zusammengesetzt
ist. Das malt der expressionistische Maler so roh und so
primitiv, wie unsere Vorstellung beim bewußten Hören
des Wortes „Mensch* ist. Dabei kommt es dem expressionistischen
Maler (futuristische Richtung) nicht einmal darauf
an, daß die einzelnen Gliedmaßen in natürlicher Lage und
Anordnung gemalt werden, sondern er malt Körper, Kopf,
Arme und Beine wahllos in beliebiger Lage, malt ein Chaos
von menschlichen Körperteilen al* Ausdruck de? Begriffes
»Mensch*. Aber der expansionistische Künstler stellt nicht
nur reale Gegenstände, sondern auch abstrakte Begriffe dar,
er malt Freude, Trauer, Melancholie, Se*de, Musik usw.
Und das Produkt seiner Kunst ist die bildliche Wiedergabe
der Vorstellung, die bf*i ihm ausgelöst wird, sobald er mit
Bewußtsein daa dem bestimmten Begriff zugrundeliegende
Wort hört, ist das Bild, das er im Geiste mit einem bestimmten
Gegenstand oder abstrakten Begriff verbindet, ist
eine Zusammenstellung der Farben, die die Töne iu ihrer
Zusammensetzung und Reihenfolge in den verschiedene»
Musikstücken bei ihm auslösen. Daß es Menschen gibt,
die bei bestimmten Tönen, die sie hören, eine bestimmt*
Farbe sehen, fat ja allgemein bekannt.*)*
*) Durch gütige Vermittlung des Herrn Geb, HofraU Dr. H. Wemekkc
aus der „Wehn. Zeit." abgedruckt. M.
**) Vergl. die sehr interessanten Ausführungen unseres neugewonnenem
Mitarbeiters Dr. Gerhardt ira Aug.-Heft, K. N. c) „Tome und Farbe*'
f. 427. Schritt!.
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