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IQ Psychische % Studien. XLVIL Jahrg. I.Heft. (Januar 1920.)
Miß Lamont und Miß Morison (Pseudonyme), Töchter von
christlichen Eltern und in ihrem Berufe Lehrerinnen . waren (1901)
auf einer Ferienreise in Paris und hatten beschlossen, Versailles zu
besuchen und sich Klein-Trianon **) anzusehen, den Lieblings-
aufenthalt der Königin Mark Antoinette. Es war im August, und
die beiden Damen verließen sich zur Führung auf ihren Bädeker.
Im Parke — so erzählt Miß Lamont — trafen sie zwei Männer in
langen graugrünen Röcken mit kleinen dreieckigen Hüten, welche
den Damen den Weg wiesen. Es fiel den Besucherinnen auf, daß
die Männer in eigentümlicher, gewissermaßen mechanischer Art
und Weise Antwort auf die Frage nach dem rechten Weg gaben.
Die Damen kamen in die Nähe eines allein stehenden Landhauses,
unter dessen Türe eine Frau und ein Mädchen standen. Diese
waren in ungewöhnlicher Weise gekleidet. Beide trugen weiße
Halstücher, deren Enden in den Schnürleib reichten, und das Mädchen
, obwohl anscheinend nur 13 oder 14 Jahre alt, hatte ein
langes Kleid bis auf die Knöchel.
Die Damen schritten weiter, aber der Pfad schien nicht in der
Richtung zu führen, in welcher sie Trianon vermuteten. Die Gegend
machte den Eindruck trostloser Einsamkeit, und beide Damen
überkam bald ein Gefühl von Niedergeschlagenheit; sie schienen
wie in einem schweren Traum zu wandeln. Schließlich standen sie
vor einem Gebäude, dessen Dach von Säulen getragen war. Auf
den Stufen saß ein Mann mit einem schweren schwarzen Mantel
um die Schultern und einem breitkrämpigen Hut auf dem Kopfe.
Furcht und Angst bemächtigten sich immer mehr der beiden
Damen. Der Mann wandte sein Gesicht langsam gegen die Be-
sucherinnen. Das Gesicht war blatternnarbig und machte einen abstoßenden
Eindruck.
Plötzlich hörten die Damen, daß jemand hinter ihnen herlief
und ihnen in fremdem Akzent zurief, daß man hier nicht gehen
dürfe. Es war ein junger Mann von blühendem Aussehen mit langem
schwarzen Haar. Er trug dunkle schwere Kleidung und
Schnallenschuhe.
Nun schlugen die Damen einen anderen Weg ein und kamen
in den englischen Garten von Klein-Trianon. Der Platz war verlassen
, „aber** — erzählt Miß Lamont — %„als wir uns näherten,
fühlte ich, daß jemand nahe bei mir war. Während wir auf der
Terrasse standen, kam ein Knabe aus einer Türe, und ich höre
noch das Zuschlagen derselben hinter mir. Er erbot sich mit
sonderbarem Lächeln, uns den Weg zu zeigen."
Endlich kamen die Damen an den Eingang von Klein-Trianon
und kehrten zurück in die Rue des Reservoirs. Der sonderbare
**) Le Petit-Trianon, "kleines Lustschloß im Parke von Versailles,
1776 unter Ludwig XV. für die Dubarry erbaut, war später der Lieblingsaufenthalt
der Königin Marie Antoinette.
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