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Psychische Studien. XLVII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1920)
macht hatte. Die großen Läden waren geschlossen. An der
Nord- und Westseite des Hauses war eine Terrassie. Mit dem
Rücken gegen dieselbe, saß eine Dame in dem Gras, ein Papier
auf Armes Länge vor sich haltend. Miß Morison dachte, die Dame
zeichne und habe ihren Feldstuhl mitgebracht. Es schien, ak ob
sie eine Baumstudie machte. Sie sah auf, als die beiden Besucherinnen
vorübergingen. Es war kein junges Gesicht und obwohl
hübsch, nicht anziehend. Sie hatte einen großen weißen Hut und
ihr Haar lockte sich um die Stirne. Ihr kurzes, helles Sommerkleid
war auf ihren Schultern wie ein Halstuch an angiert, das am
Rande mit einem grünen oder goldenen Saum versehen war, so
daß man sah, daß das Halstuch über dem niedrigen Leibchen lag.
Miß Morison hielt die Dame für eine Touristin und dachte, daß
das Kleid von alter Art und ganz ungewöhnlich sei, obwohl man
diesen Sommer Fichus trug; sie sah genau nach derselben, aber
ein unbeschreibliches Gefühl drängte sie zum Weitergehen. Sie
fühlte sich wie im Traume wandeln, so unnatürlich war die Stille
und Beklemmung. Die Damen gingen die Stufen hinauf. Wieder
sah Miß Morison die Lady, diesmal von rückwärts und bemerkte,
daß ihr Fichu blaß grün war.
Erst zwei Monate später tauschten die beiden Damen ihre
Empfindungen und Eindrücke, welche sie bei «dem Besuch in Klein-
Trianon erfahren hatten, gegenseitig aus und sie beschlossen nun,
daß jede für sich ihr Erlebnis niederschreiben sollte. Der wesentliche
Inhalt dieser Erinnerungen ist hier wiedergegeben. Miß
Lamont konnte <sich nicht erklären, daß sie die Lady nicht gesehen
hatte.
Die Aussprache hatte am Abend des 10. November 1901 stattgefunden
und Miß Lamont war darauf nach London zurückgekehrt
. Als sie am folgenden Morgen in ihrer Schule Unterricht
gab und auf die französische Revolution z<u sprechen kam, entdeckte
sie mit großem Interesse, daß der 10. August — der Tag
ihres Besuches in Trianon — eine besondere Bedeutung in der
französischen Geschichte hatte. *)
Abends besuchte sie eine Freundin, welche in Paris zu Hause
war, und fragte dieselbe, ob sie etwas darüber wisse, daß es in
Trianon spuke. (Miß Morison hatte ihr Abenteuer in Trianon
niemand mitgeteilt.) Nun erzählte die Freundin, daß sie sich erinnere
, von Freunden in Versailles gehört zu haben, daß an einem
gewissen Tage im August Marie Antoinette regelmäßig im Garten
von Petit-Trianon sitzend gesehen werde mit einem hellen, leichten
Hut und hellem Kleid; daß ferner der Platz, speziell das Landhaus
und die Wege belebt seien von Leuten, die mit ihr dort zu
*) io. August 1792 Sturm auf die Tuiierien; König und Königin
flüchten in die Nationalversammlung.
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