http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1920/0058
54 Psychische Studien. XL VII. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1920.)
„Den Tag des Traumes weiß ich nicht mehr genau,
auch die Stunde habe ich mir nicht gemerkt. Ueber die
Einzelheiten des Traumes kann ich Ihnen folgendes sagen r
Ich sah, wie der Arzt zu meinem Kinde geholt wurde. Es
war der gleiche Herr, welcher dann später tatsächlich mein
krankes Kind in Behandlung hatte. Ich sah auch ganz genau
den Vorgang, wie man mein Kind fortholte, und wußte
im Traum, daß es das Gmünder Krankenhaus war, in welches
man es brachte. Nur darüber habe ich jetzt keine rechte
Erinnerung mehr, ob ich auch seinen Tod in dem Traum
voraussah, es ist mir aber, als ob ich geträumt hätte, mein
Kind sei gestorben und in [Sch. begraben worden. Die
Krankheit meines Kindes war ein sehr rasch auftretendes
Dickdarmleiden. Ich habe im Traum zwar nicht die Art
des Leidens erkannt, aber doch sein plötzliches Auftreten.
Die Krankheit machte sich erstmals am 8. September d. Js.
mittags bemerkbar und der Tod trat schon am 9. September
morgens 5 */4 Uhr ein, genau in dem Augenblick, in
dem ich in Sch. die zweite Traumerscheinung hatte".
Wir haben hier einen Wahrtraum im vollen Sinne des
Wortes vor uns. Er zeigte nicht sinnbildlich einen Todesfall
an, wie dies manchmal in Träumen geschieht, sondern
der Traum war ein deutliches Hellsehen in die nächste Zukunft
. Er zeigte alle Einzelheiten eines Vorganges, der
dann später genau so eintraf. Derartige Träume kommen
so häufig vor, daß sie nicht mehr geleugnet werden können.
Erklären kann man sie bis jetzt noch nicht, denn sie bewegen
sich nicht im Rahmen unserer gewöhnlichen Sinneswahrnehmungen
und übersteigen die Grenzen unseres an
Zeit und Raum gebundenen Denkens. Sie zeigen uns bloß,
daß uns unsere sinnliche Wahrnehmung das Weltbild nicht
vollständig zeigt und auch nicht so, wie es an sich ist, und
daß auch unser Denken nichts anderes ist, als eine
neben unserer Sinneswahrnehmung hergehende weitere Möglichkeit
unseres Bewußtseins, in ein gewisses Verhältnis zur
Welt oder zur Wirklichkeit zu gelangen, während ihm
alle andern Beziehungsmöglichkeiten in der Eegel verdunkelt
sind und nur ausnahmsweise einmal — meist in
der Form von Träumen mehr oder weniger deutlieh
aufblitzen, um dann rasch wieder im Dunkel zu verschwinden
, etwa so wie ein Landschaftsbild bei einem
nächtlichen Blitz aufleuchtet und verschwindet. Man muß
sich die Bedeutung einer solchen Feststellung klar machen.
Sie zeigt, daß die Menschenseele noch in ganz anderen Beziehungen
zur Wirklichkeit, und auch zur Vergangenheit
und Zukunft steht, als wir gemeinhin annehmen. Und dies
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1920/0058