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Hänig: Kapitalismus oder Kommunismus?
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Leipzig) betitelt ist. Ich ging mit einem gewissen Mißtrauen an
die Lektüre, da sich in solchen Büchern neben manchem Anregenr
den auch vieles Unverarbeitete zu finden pflegt, aber ich wurde
angenehm enttäuscht: der Verfasser (E. Sychova) behandelt die
Geschichte der Menschheit unter dem bekannten Hegeischen Gesichtspunkte
der These und Antithese und kommt dabei zu so anregenden
Ergebnissen, daß ich die Lektüre des Buches jedem
empfehlen möchte. Der Mensch hat nach ihm, wie er gleich am
Anfang hervorhebt, eine zweifache Polarität, zwischen der auch
die menschliche Geschichte hin- und herschwankt: den Tagespol,
das bewußte Geistesleben des Verstandes, und den Nachtpol, das
Unterbewußtsein, das bisher als krankhaft abgelehnt* wurde. Die
orientalischen Völker waren mehr nach der Seite des negativen
Pols veranlagt, während bei den Griechen ein außergewöhnliches
Gleichgewicht zwischen beiden Extremen vorhanden war; als mit
der Sophistik der Tagpol das Übergewicht erhielt, war es mit der
Größe Griechenlands vorbei (S. 4). Das Mittelalter war die letzte
Periode des Nachtpoles und Luther versuchte, wie alle großen Persönlichkeiten
(Shakespeare$ Mozart, Raphael usw.) ein Gleichgewicht
zwischen beiden Extremen herzustellen, indem er dem Pendel
die entgegengesetzte Schwingungsrichtung gab. Die Bewegung
schlug um und wir haben seitdem eine bis zur Einseitigkeit ge-
steigerte Entwicklung des bewußten Verstandeslebens, das nacheinander
nicht nur die Wissenschaft (Aufklärung, Materialismus),
sondern auch das religiöse Leben, ja, was eben so schlimm ist, auch
unser soziales Leben ergriff und es, wie wir jetzt eben gesehen
haben, bis zum Grunde unterwühlte. Auf verstandesmäßiger
Grundlage, die zuletzt so weit ging, daß sie jedes individuelle Gefühl
auszuscheiden versuchte, war u. a. auch der deutsche Militarismus
aufgebaut — die gefühlsmäßige Reaktion, die dem richtigen
Gefühl für das Recht der Persönlichkeit entsprang, hat zu der
deutschen Revolution geführt, die, wie es scheint, viele unserer
Volksgenossen immer noch nicht richtig zu verstehen vermögen,
indem sie heute einseitig nur noch deren Entartung sehen, obwohl
nach den Gesetzen der Geschichte eben jede Bewegung zunächst
über das Ziel hinausgeht und erst in der Folgezeit in die richtige
Bahn zurückgelenkt werden muß. Was aber das Schlimmste ist
— den größten Feind der heutigen, gänzlich im Umbilden begriffenen
Kuburwelt, auf deren bevorstehende Krisis s. Z. schon
der amerikanische Hellseher Davis hingewiesen hat *)> den internationalen
Kapitalismus, sehen sie zwar vor Augen, aber erklären
sich von vornherein für unfähig, ihn zu bekämpfen und überlassen
dessen Bekämpfung der Arbeiterklasse, obwohl sie wie diese genau
) V<rel. meme Ahhindl. Gedanken zum Weltkrieg, »Psych. Stud « 42
Jahrg. (1915) 3. u. 4. Heft
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