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98 Psychische Studien. XLVH. Jahrg. 2.-3. Heft, (Febr.-M&ru 1920.)
den Kindern Dogmen eintrichtert, sondern daß man den Erwachsenen
Tatsachen zur Prüfung vorlegt.*'
Kapitalismus oder Kommunismus auf wirtschaftlichem und
geistigem Gebiete? Absolute Bevormundung durch «einzelne oder
schrankenlose Beseitigung aller Unterschiede? Ich glaube, daß die
Unmöglichkeit, diese Frage richtig zu beantworten, vor allem, wie
so oft, in ihr selbst liegt: die ganze Fragestellung ist falsch und die
Entwicklung muß darauf selbst die richtige Antwort geben. Aus
der Thesis (Materialismus und Kapitalismus) entsteht die Anti-
thesis (Kommunismus), aber erst die Synthese wird die Lösung
dieses Problems bringen und diese kann, wenigstens auf sozialem
Gebiete, nicht anders als so heißen: berechtigte Anerkennung der
Ansprüche, die die Gesamtheit an den einzelnen hat, aber darüber
hinaus nichts, was die Entwicklung des Individuums beeinträchtigen
könnte.
Ich wüßte diese 'Bemerkungen nicht besser zu schließen als
mit dem Hinweis auf ein Werk, das, ebenfalls dem okkulten Gedankenkreise
angehörend, treffliche Bemerkungen über die Umbildung
der Gesellschaftsordnung enthält, in der wir augenblicklich
stehen und dessen Lektüre ich jedem Leser der „Psych. Studien"
empfehlen möchte. Es ist G. L. Dankmars Buch: „Die kulturelle
Lage Europas beim Wiedererwachen des modernen Okkultismus",
das 1905, also beinahe ein volles Jahrzehnt vor Ausbruch des
Weltkrieges, in Leipzig (0. Mutze) erschienen ist. Der Verfasser
hat die Entwicklung der Dinge vorausgesehen und einige Gedanken
von ihm, die ich zum Schlüsse herausgreife, mögen zum Beweise
dafür dienen, wie sehr ihm die Verhältnisse .Recht gegeben
haben. Z. B. Seite 619: „Ohne Eigentum und Besitz ist der Mensch
wirtschaftlich unfrei .... Um sittlich s e i n und glücklich wer-
den zu können, bedarf der Mensch der ungehinderten Entwick-
lang seiner Anlagen, seiner ganzen Individualität. Daher sind, alle
Formen der Sklaverei zu bekämpfen. Die moderne Form davon
ist aber: die völlige ökonomische Abhängigkeit des Arbeitnehmers
vom Arbeitgeber. Diesem wird dadurch eine fast unumschränkte
Macht gegeben über das ganze Dasein jenes. Eine Macht, die sehr
leicht zum Mißbrauch verlockt. Die absolute ökonomische Abhängigkeit
von Millionen Menschen muß daKer aufhören: das ist
eine selbstverständliche sittliche Forderung. Der politischen Freiheit
hat eine ökonomische Gleichmäßigkeit zu entsprechen.*' Und
an einer anderen Stelle, Seite 610: „Der Staat ist nur des Volkes
wegen da und nur im Dienste dieses Volkes hat er eine Daseinsberechtigung
. Er ist eine Summe anerkannter Machtverhältnisse,
welche der Gattungsglückseligkeit, der die individuelle immanent
ist, zu dienen hat." Seite 621: „Nur dann bedeutet der Sozialismus
einen wirklichen Fortschritt, wenn er mit sittlichen Ideen gesättigt
wird." Seite 625: „Es wird sich ein Kulturstaatenbund bilden, dem
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