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102 JfsyeMsche Stadien. XLVIL Jahrg. 2.-8. Heft. (Febr -März 1920.)
haupt niemals beginnen. Für die Existenz des biblischen Teufels
gibt es keine annehmbare philosophische Begründung, dagegen läßt
sich das Dasein des Teufels des Eigennutzes auf natürliche Weise
erklären.
Der Eigennutz (Selbstsucht, Egoismus) ist die unmittelbare
oder mittelbare Ursache alles Bösen in der Welt, und der Teufel
oder Satan ist die sinnbildliche Darstellung oder Verkörperung desselben
; der Eigennutz selbst aber hat seinen Ursprung im Inchvi-
dualisationsprozeß oder vielmehr in dessen absondernder Grundtendenz
, die sich in jedem besonderen Wesen als Selbsterhaltungstrieb
offenbart und in ihm als solcher fortwirkt.
Der Selbsterhaltungstrieb oder das Bestreben, sein Selbst zu
erhalten und gegen alle übrigen zu behaupten, verdunkelt das Bewußtsein
allgemeiner Zusammengehörigkeit und solidarischer Verbindung
. Es genügt, sich diesen Trieb hochgradig gesteigert zu
denken, um zu begreifen, daß ein damit Behafteter eine Gesinnung
hegen kann, wie sie sich in den Worten Richard Glocesters ausdrückt
, wenn er sagt:
„Und Liebe, die Graubärte göttlich nennen,
Sie wohnt im Menschen, die einander gleich,
Und nicht in mir; ich bin ich selbst allein."
Kommt zum Eigennutz, wie hier bei Richard dem III., noch
ein diesem Triebe dienstbarer durchdringender Verstand, so ist der
Teufel in Menschengestalt fertig, und man braucht, um das Dasein
des Bösen zu begründen, keine Ikarosflüge ins Metaphysische zu
unternehmen odeT «ine Zuflucht in einem übernatürlichen Myste-
rium zu suchen.
Der menschliche Geist ist ein integrierender Bestandteil des
Allgeistes und ist sich als solcher auch dessen bewußt, sowie einer
sympathischen Verbindung mit allen übrigen Wesen; soll er sich
aber zu einem besonderen selbständigen Wesen entwickeln, so muß
dieses Bewußtsein zunächst verdunkelt werden. Dieser Zweck wird
erreicht durch seine physische Organisation, welche seine unterbewußte
Sphäre, der als der reingeistigen dieses Bewußtsein eigen
ist, von der bewußten isoliert. Je vollkommener diese Isolierung
ist, desto mehr wird in der betreffenden Person das Ichgefühl oder
der Ichsinn und mit ihm der Selbsterhaltungstrieb und seine Entwicklungsformen
, Eigennutz, Selbstsucht und Egoismus dominieren,
und sie zu einer Handlungsweise bestimmen, die »wir böse nennen.
Wer eine durch den Eigennutz vollständig zerrüttete oder, wie
Shakespeare sagt, „aus allem Gleichgewichte" gebrachte menschliche
Gesellschaft in allen ihren abstossenden Zügen aus eigener
Anschauung kennen lernen will, dem bietet unsere Zeit eine so
günstige Gelegenheit hierzu, wie keine andere zuvor.
Ein solcher Beobachter wird auch gewahren, daß viele Ärzte
beflissen sind, den schwerkranken sozialen Organismus, der vom
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