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Kaindl: Eigennutz
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Fieber des Eigennutzes geschüttelt und gerüttelt wird und den
Patienten delirieren und faseln macht, zu heilen; da sie aber Ursache
und Natur seiner Krankheit nicht erkennen, so doktern sie
beständig an ihren Wirkungen herum und bringen ihn damit an den
Rand des Grabes. Wer wollte sich indeß dagegen verbürgen, daß
die Ärzte nicht schon selbst vom Geist der Zeit erleuchtet sind, und
die Krankheit, um daraus Nutzen zu schlagen, absichtlich in die
Länge ziehen?
Da die soziale Harmonie von der individuellen abhängt, so
müßten sie sich von Rechts wegen zuerst mit der Heilung der Individuen
befassen.
Der Gleichgewichtszustand der Harmonie, den sie im sozialen
Körper herzustellen verfehlen, beruht beim Individuum auf der
ebenmäßigen Tätigkeit und dem einträchtigen Zusammenwirken
entgegengesetzter, von Natur aus dual angeordneter Kräfte, Tendenzen
oder Triebe.
Der zentripetalen Tendenz des Egoismus (Eigennutzes, Selbst-
Hebe) entspricht als natürlicher Widerpart die zentrifugale Tendenz
des Altruismus (Gemeinsinn, Nächstenliebe). Diese beiden
Tendenzen müssen einander ebenbürtig und in ihrem Zusammenwirken
einträchtig sein, wenn das seelische Gleichgewicht im Individuum
erhalten bleiben soll. Von dem richtigen Verhältnisse dieser
beiden menschlichen Grundtriebe hängt die individuelle Harmonie
ab, welche die notwendige Vorbedingung ist für die soziale
Harmonie. Wird einer dieser Grundtriebe in seiner Wirksamkeit
geschwächt oder gehemmt, so wird der andere in Ermangelung der
ihn regulierenden Gegenkraft eine extreme Tätigkeit entfalten und
dadurch die individuelle und im weiteren Verlaufe auch die soziale
Harmonie stören. Daß in dieser Stufe des Daseins hauptsächlich
der Egoismus geneigt ist, ins Extrem zu schießen, ist insofern begreiflich
, als der eigentliche Zweck dieses Daseins die Individualisierung
ist, bei welcher der dem Egoismus nahe verwandte Selbsterhaltungstrieb
einen Hauptfaktor bildet. „Betrachtet man**, sagt
Prof. Perty in seinem Werke „Blicke in das verborgene Leben des
Menschengeistes**, „die Natur, so überzeugt man sich von ihrem
Streben, gesonderte Individualitäten herzustellen,
die sich aus der gleichartigen Masse loswickeln, immer bestimmteren
Ausdruck gewinnen und sich endlich zum Charakter der Person
erheben.**
Nach der heute in der zivilisierten Welt allgemein herrschenden
Philosophie des Materialismus — die mir, ebenbei gesagt, ein
unter dem Einflüsse des Eigennutzes zustande gekommenes, zur
Rechtfertigung seiner rüden Moral (recte Immoral) dienendes Verstandeswerk
zu sein scheint — erscheint nur die Selbstliebe (die
Selbstsucht, der Egoismus, der Eigennutz) motiviert, die Nächstenliebe
(der Gemeinsinn, der Altruismus) hingegen gänzlich unmoti-
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