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Ludwig: Aristoteles als Zeuge der Tiefenpsychologie. 118
und die Zukunft verkündend. So beschaffen wird sie auch, wenn
sie beim Tode sich vom Körper trennt. Auch der Dichter Homer
hat dies beobachtet; denn er ließ den sterbenden Patroklos den Tod
Hektors vorausverkünden, Hektor aber den Tod des Achilleus.
Daraus, sagte er, schlössen die Menschen, es müsse etwas Göttliches
geben, das der Seele angepaßt ist und das sei durchaus wohl
begründet. Aber auch der gestirnte Himmel komme in Betracht.
Denn indem die Menschen täglich die Sonne sich im Kreis bewegen
sahen und nachts den wohl geordneten Lauf der übrigen Gestirne
betrachteten, schlössen sie daraus, es müsse einen Gott geben, der
Urheber dieser Bewegung und dieser genauen Ordnung ist. So
Aristoteles.*'---
Wir können dem Philosophen Sextus Empiricus nicht dankbar
genug sein, daß er uns diese kostbare Stelle aus des Aristoteles
Dialogen erhalten hat. Nun wissen wir also, auch Aristoteles hat
die okkulten Kräfte d^r Seele gekannt und sogar einen Gottesbeweis
daraus formuliert. Wenn man seine Äußerung über
den doppelten Weg zur Gotteserkenntnis liest, denkt man da
nicht unwillkürlich an die Antwort, die Kant auf die
Frage gab, was ihm das Dasein Gottes wahrscheinlich
mache. Er sagte: „Der gestirnte Himmel über mir und
das Gewissen in mir.** Aristoteles hat nur in allgemeiner
Andeutung berührt, wie er sich die i "ty(>v(>'au£ioi Iv rxvou
die erhöhten Seelenzustände im Schlaf denkt. Man kann da an
die Erscheinungen des Mediumismus denken, an die Orakel und
die in der Ekstase verkündeten Weissagungen der Pythia, oder an
den Tempelschlaf mit seiner somnambulen Autodiagnose und Heilmittelverordnung
, aber auch an Wahrträume und Vorahnungen.
Daß gerade Sterbenden sich zuweilen der Blick in die Zukunft
öffnet, ist schon Hc-mer bekannt gewesen, auch Aristoteles bekräftigt
diese Erfahrung und Papst Gregor der Große, der dieses Phänomen
ebenfalls bestätigt, brachte im 4. Buch seiner Dialoge einige
Beispiele aus seiner Zeit hierfür.*) Man kann überhaupt sagen:
es waren alle idealistischen Denker der klassischen und christlichen
Zeitperiode von der Existenz »okkulter Fähigkeiten der
menschlichen Seele überzeugt, bis eine Zeit rationalistischer Eng-
köpfjgkeit, eines naiven naturwissenschaftlichen Realismus, der
Maschinen und Fabriken kam, die früher wertvolle Erkenntnisse
auf psychologischem Gebiet verschüttete. Wenn nun Aristoteles
aus dem Vorhandensein solch supernormaler Seelenkräfte den
Schluß zog, es müsse ein erhabener Geist existieren, der der Seele
diese göttlichen Kräfte mitteilte, weil sie sicherlich nicht aus der
Materie stammen können, so wird man doch auch da wieder un-
*) Vgl. meinen Artikel „Gregor der Große über empirische Beweise
für das Fortleben*. (Psych. Studien, Januarheft 1920 ff:.)
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