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Lang: Das Ichbewußtsein, d. wahre Wesen d. Geisteskrankheiten. 195
diesem Augenblicke, wo ich mir die Befangenheit der Ichbetrachtung
völlig abstreifte.
Also was ist der Wahnsinn in rein psychischer Hinsicht, natürlich
abgesehen von organischen Gehirndefekten (syphilitische Gehirnparalyse
, Gehirneiterung usw.) ? Wahnsinn ist der
durch die unbewußte objektive, fortwährend tiefere drohende
Befangenheit der S el b s t b e t r a c h t u n g des
reinen, sich bewußten I c h s h e r v o r g e ru fe n e quälende,
den Geist marternde und töten wollende, den Bewußtseins (= Verstandes
) raub drohende S e 1 b s t b e t rachtungszustand
und äußert sich je nach der Tiefe der Selbstbetrachtung und der'
Art der Entledigungsversuche von diesem daraus entstehenden
quälendem Seelenzustand bei vollem Selbstbewußtsein, jedoch
immer bösartig, da der Befangene bei vollem Selbstbewußtsein
durch seine unbewußte Ichbetrachtung gewaltsam seinem eigenen
Bewußtsein zur Außenwelt sich entreißen will. Dadurch, daß der
Wahnsinnige sich des psychischen Vorganges nicht bewußt ist, ihn
nicht kennt, kann er dieser Befangenheit nicht objektiv gegenübertreten
und sie nicht aufheben.
So betrachtete ich nun in meiner Unwissenheit also den durch
diese Ichbetrachtung entstehenden quälenden unerklärlichen be-
wußtseinsraub drohenden Seelenzustand bald als einen drohenden
epileptischen Anfall, bald als einen Zustand der qualvollen Platzangst
und anderer psychischen derartigen Zustände. Daß ich nun
auf einmal zugleich so viele verschiedene „Nervenkrankheiten"
bekommen hätte, erschien mir doch etwas sehr komisch und
zweifelhaft und ich forschte nun nach einem wirklichen wahren
Grunde des Wesens meines unerklärlichen qualvollen Seeienzustan-
des. Als ich nun einmal so nachdachte, so wurde ich natürlicl"
plötzlich von der quälenden Ichbetrachtung befangen und der unbewußte
Kampf mit dem Verluste des Bewußtseins bei vollem
Selbstbewußtsein trat nun wieder auf. Jetzt schrieb ich natürlich
in meiner Unwissenheit die Schuld dieses Zustandes meinem tiefen
Nachdenken zu, und ich sagte mir, daß ich nicht mehr tief denken
darf, und so kam es, daß ich oft nur mit größter Mühe einen
tiefen Gedanken fassen konnte, und ich wagte schon fast gar
nicht mehr, zu denken. Ich suchte Zerstreuung. Aber wenn ich
dann nun mich in einem Konzert, Theater oder in irgend einem
Vortrag befand, so vertiefte ich mich unbewußt in die objektive
Betrachtung meines Ichs im Bewußtseinsspiegel und kämpfte fori,
während den wahnsinnigen Kampf mit dem In-Sichverlieren im Ich.
Ich war also während dieser zwei Jahre bald leichter, bald
stärker von der drohenden subjektiven Betrachtung meines Ichs
im Ichspiegel, der Objektivität, befangen. Vertiefte ich mich nun
unbewußt in diese Ichbetrachtxing, so rang ich immer mit dem
Verluste des Bewußtseins zur Außenwelt .bei vollem Selbstbewußt-
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