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210 Psychische Studien. XLVII. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1920.)
undurchdringlichen Geheimnisses tragen. Es sind jene Tatsachen
, welche Professor Richet mit dem Namen „metapsycbische4*
bezeichnet hat.
Sie wissen alle, worin diese sog. metapsychischen Phänomene
bestehen. Die einen, hauptsächlich diejenigen der psychologischen
Ordnimg, halten sich außerhalb der gewöhnlichen Modalitäten
unserer Fähigkeiten zu erkennen, zu fühlen, wahrzunehmen
, zu verstehen oder unsere Gedanken auszudrücken; die
anderen, besonders die der physiologischen Klasse bestehen in
dynamischen und materiellen Wirkungen, die mit dem regulären
Gebrauch unserer Organe nicht zu erklären sind und deren
Wirkungsfeld überschreiten.
Man wagt nicht mehr, diese mysteriösen Tatsachen als übernatürlich
zu erklären. Aber man hat für sie eine weniger widersprechende
Definition gesucht und auch gefunden. Man nemit
sie supranormal und bezeichnet damit eine Gruppe von Phänomenen
, die gewiß natüilich sind, aber sich trotzdem den Naturgesetzen
entziehen.
Dieser paradoxe Begriff dürfte weniger anstößig erscheinen,
wenn er auch als allgemeine Bezeichnung unwissenschaftlich erscheint
.
Ich möchte in diesem Vortrag versuchen, zu zeigen, daß es
nicht mehr Supranormales gibt, als Uebernatürliches oder Unerkennbares
; daß das anscheinend Wunderbare, Geheimnisvolle
und Widersprechende der metapsychischen Phänomene einzig
aus unserer Unwissenheit stammt oder au«
unserer Unkenntnis der ursprünglichen und
wesentlichen Naturgesetze.
Ich werde mich in meinem Vortrage heute abend hauptsächlich
auf die Phänomene der physiologischen Ordnung beschränken
, weil die auf diese Tatsache beschränkte Demonstration
kürzer, schlagender und auch beweiskräftiger ist.
Es soll nun gezeigt werden, daß die sog. supranormale Physiologie
nicht geheimnisvoller ist, als die sogenannte normale;
oder, was auf dasselbe hinausläuft, daß die normale und die
supranormale Physiologie beide gleich wunderbar sind, daß sie
nicht zwei Probleme mit zwei verschiedenen Lösungen darstellen,
sondern ein und dasselbe Problem, nämlich dasjenige des Lebens.
Der erste Teil meines Vertrages behandelt die Tatsache, daß
die sog. normale Physiologie selbst noch ein
volles Geheimnis ist. Dieser auf den ersten Blick paradoxe
Satz erscheint aber nur so infolge einer wohl bekannten
Illusion des menschlichen Geistes, der nur deswegen eine Sache
zu verstehen sich einbildet, weil sie ihm vertraut ist. Der Philosoph
widerstrebt natürlich dieser Neigung, aber die Menge läßt
sich unwiderstehlich von ihr fortreißen. „Je niedriger ein Mensch
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