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Sehrenk-Notzing: Die sog. supranormale Physiologie usw. 211
an Intelligenz steht", sagt Schopenhauer, „desto weniger existiert
für ihn das Mysterium.
Jedes Ding scheint ihm in sich selbst die Erklärung seines
Wie und seines Warum zu tragen." Nun, nichts ist bekannter als
die Funktion unseres Organismus in seinen Hauptzügen, nichts
scheint dem gewöhnlichen Mann einfacher; und doch ist nichts
geheimnisvoller.
Das Leben an sich bietet ein noch undurchdringliches Geheimnis
. Der Lebensmechauismus, die Tätigkeit der wichtigen
organischen Funktionen sind nicht weniger unerklärt. Diese, sich
dem bewußten Willen des Wesens entziehende Tätigkeit wirkt und
lebt sich auf unbewußte Weise aus, genau wie in der sog. supranormalen
Physiologie. Die normale Funktion ist ebenso „okkult"
wie die sog. supranormale.
Die Konstitution des Organismus selbst und alles, was sich
anschließt, die Geburt, das Wachstum, die embryonale und die
postembryonale Entwicklung, die Erhaltung der Persönlichkeit
während des Lebens, die organischen Wiederherstellungen (bei
gewissen Tieren bis zur Regeneiation von Gliedmaßen und selbst
von Eingeweiden gehend) sind ebenso viele unlösbare Rätsel, wenn
man den wissenschaftlichen Begriff der Individualität gelten läßt.
Sie wissen, daß nach wissenschaf tlicher Anschauung das Individuum
einfach nur ein Zellenkomplex ist Als Basis eines lebenden
Wesens, sagt Dastre, findet man die jeder Zelle eigene Aktivität
, das elementare Leben, das Leben der Zelle; über demselben
die Tätigkeitsformen, welche aus der Assoziation der Zellen resultieren
, das Leben des Ganzen, die Summe oder vielmehr den
Komplex der einzelnen Elementarleben.
Die Einheit des „Ich" ist also nur scheinbar. Sie ist eine
Tllusion, welche in demselben Moment verschwinden mußte, in
dem die alten vitalistischen und animistischen Theorien beseitigt
waren. Nach dieser Anschauung ist das „Ich" nur ein Komplex.
Auf Grund einer solchen Auffassung wollen wir versuchen,
nun in ihrem Lichte die organische Funktion und die normale
Physiologie zu verstehen.
Lassen wir die philosophische Frage beiseite, sie würde uns
aus dem Rahmen führen, den wir uns vorgenommen haben; ebenso
den psychologischen Gesichtspunkt und seine erheblichen
Schwierigkeiten. Betrachten wir nur das physische Wesen, die
physiologische Individualität, als Zellenkomplex. Woher und wie
schafft sich der Zellenkomplex, welcher irgend ein Wesen bildet,
seine spezifische Form? Wie erhält er diese Form während des
Lebens? Wie bildet sich seine physische Persönlichkeit? Wie
erhält sie sich, wie ersetzt sie sich?
Wir können nicht mehr — beobachten wir das wohl - die
Aktion eines organisierenden Dynamismus anrufen, den die
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