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410 Psychische Studien* XLVIL Jahrg. 8. Heft (August 1920.)
nen Banden niedergehalten hatten. Es ist etwas Vulkanisches
in der neuen Bewegung, was sie dem Bolschewismus innerlich
nahebringt, obwohl dieser, richtig verstanden, nur die zur Auswirkung
gelangte Sozialdemokratie, welche ja auf rein materialistischer
Grundlage ruht, zur Darstellung bringt. Der Expressionismus
ist seinem tiefsten Wesen nach Spiritualismus, der Bolschewismus
dagegen die schärfste Ausprägung des Materialismus.
Freilich berühren sich die Extreme. Der Expressionismus hat
auch eine materialistische Seele in sich ( wir können dabei auf
dem Gebiete der Musik an Max Reger denken), er ist außerdem,
was nie vergessen werden sollte, Großstadtgewächs, folglich an
sich schon teilweise krank.
Einen Schritt wreiter führte mich ein Artikel über „Expressionismus
in der Dichtung" von Tränckner in den Preußischen Jahrbüchern
1918. Hatte ich bisher den Expressionismus der Dichtung
, den ich nur aus spöttischen Darstellungen der Zeitungen
kannte, im Gegensatz zu dem der Malerei stets als vollendete
Narrheit abgelehnt, so lernte ich jetzt auf einmal zu meinem
größten Staunen eine ungeheuer packende, von tiefster Gottes-
und Nächstenliebe durchglühte Dichtungsweise kennen, gewiß
überschwenglich, übershakespearisch, krankhaft, ein echtes
Großstadtprodukt, aber doch überaus ernst zu nehmen, durchaus
nicht das, was ich bisher nach dadaistiscben Sprachproben der
Zeitungen vermutet hatte. Tränckner gibt auch köstliche Proben
dieses verrückten Expressionismus, der eben als ein krankhafter
Auswuchs zu beurteilen ist. zum besten, aber wie ganz
anders erschien mir jetzt das Wesen der expressionistischen
Dichtung als früher.
Noch deutlicher als im Expressionismus der bildenden Kunst,
wo technische Probleme, wie Kubismus u. a., hemmend wirken,
kommt in dem der Dichtung das inhaltliche, das redn geistige
Element zum Ausdruck. Man muß einmal die Glut dieser
Sprache, die schrankenlose Feindesliebe und Liebe zum Häßlichsten
, Widerlichsten, wie sie z. B. in der von Tränckner
angeführten Ballade „Jesus am Äserweg" zum Ausdruck kommt,
ferner die tiefe Gottessehnsucht, die in solchen expressionistischen
Dichtungen nach Gestaltung ringt, auf sich wirken lassen.
Nein, hier liegt eine zukunftsreiche, machtvoll aus den Tiefen des
Lebens schöpfende Bewegung vor. Es ist die Renaissance des
Mittelalters, der Geist eines Meisters Eckhart wird wieder lebendig
und entfaltet im Sturmgebraus seine Schwingen. Allzulange
hatte der auf den Universitäten gelehrte Materialismus, ein an
Nikolai, den Proktophantasmdsten der Walpurgisnacht erinnernder
, nüchterner Rationalismus die Tiefen der Innerlichkeit, alles
Wunderbare in Seele und Natur niedergehalten. Jetzt ringt es
sich mit überirdischer Gewalt aus jahrhundertelanger Kerkerhaft
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