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458 Psychische Studien. XLVIL Jahrg. 9. Heft (Sept. 1920.)
weinen und konnte die ganze Nacht nicht mehr schlafen. In den
darauf folgenden Tagen hatte sie eine unüberwindliche Sehnsucht,
nach Haus zu kommen, konnte es aber der Bahnsperre halber
nicht. Nun schwebten ihr nachts allerlei beunruhigende Traumbilder
vor: sie pflückte mit dem Vater Blumen fürs Grab der
Mutter; sie sah einen Sarg zu Grabe tragen, sie hörte beten und
sah den aufgebahrten Sarg. Kaum war der Eisenbahnverkehr
wieder aufgenommen, so eilte sie mit dem ersten Zuge nach Haus.
Den 5 Kilometer langen Weg vom Bahnhof zum Heimatort legte
sie in einer halben Stunde zurück, ohne Ermüdung zu fühlen.
Sie wird im Elternhaus mit den Worten empfangen: „Die Mutter
ist tot" und sinkt ohnmächtig in die Arme der Geschwister. —
Mit eben dieser Schwester erlebte der Kandidat einen bemerkenswerten
Fall von Telepathie am 9. Juni 1916. Er stand damals im
Felde vor Verdun. Um 8 Uhr früh wurde er von seinem Kompagnieführer
abgeschickt zur Ueberbringung eines Be/ehls an ein
anderes Bataillon. Ais er nach Erledigung seines Auftrags zur
Kompagnie zurückkehrte, mußte er an einem Bollwerk vorbei, das
die Deutschen am vorhergehenden Tag genommen hatten. Aber
dieses Werk war im Laufe der Nacht von einer Seitenmulde her
wieder \od den Franzosen genommen worden. Ahnungslos marschierte
er da vorbei, als er plötzlich angerufen wurde: „Rendez
vous!" Gegen 12 Franzosen erhoben sich hinter inner Böschung.
Wie vom Blitz getroffen, ratlos stand er da, den Tod vor Augen.
Der Gedanke durchzuckte ihn: „ich werde wohl gleich am Kopf
getroffen niedersinken und die Angehörigen daheim erfahren
vielleicht nie etwas über die Art meines Todes". Und er rief
innerlich zur fernen Schwester: „Schwester, da mußt mich jetzt
sehen!" Nachdem er einige Monate in Gefangenschaft geweilt
hatte, kam ein Brief von seiner Tante, worin sie ihm mitteilte,
seine Schwester habe ihn am 9. Juni, morgens 8 Uhr, beim Eintreten
ins Zimmer mit blutendem Kopf niedersinken sehen und
bitterlich geweint. Die Schwester wohnte damals in Hamburg und
er hatte sie seit 2lA Jahren nicht mehr gesehen. Dieselbe
Schwester hatte auch die Gabe, die Seelenzustände ihr verwandter
oder befreundeter Personen mitzuerleben. Als ihr Bruder unschlüssig
geworden war, ob er sich dem geistlichen Stande
widmen solle oder nicht und starke innerliche Kämpfe hatte,
schrieb sie ihm aus Hamburg, sie habe* seinetwegen manchen
schweren Traum und sähe ihn unglücklich. Auch in Beziehung
auf eine entfernt wohnende Freundin hatte sie öfter einen bestimmten
Traum, und nach einiger Zeit fand der Traum in den
Ereignissen seine Erfüllung. Während der Kandidat, so lange er
als vermißt galt, von den Bewohnern des Heimatdorfes für tot
gehalten wurde, schlugen sein Bruder M. und die Schwester B.
wiederholt die Karten (gewöhnliche Spielkarten) und erhielten
jedesmal die Auskunft "Joseph lebt", zur Freude und zum Trost
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