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Lang: Das Ichbewußtsein, das wahre Wesen der Geisteskrankheiten. 475
Ferne in der Außenwelt als „Gotta auf, weshalb es Menschen
gibt, die vor dem Sterben noch fromm werden.
Die ganze Gottesforschung hängt also von der Erkenntnis
des Ich ab. Es wird wohl behauptet, daß es ein erkenntnistheoretisches
Erleben des Ichs nicht gäbe. Wäre ich nicht im
Alter von 13 Jahren auf mein Ichgefühl bewußt gestoßen,
das ich infolge der jugendlichen Unkenntnis als nicht zu meinem
eigenen Ich gehörig betrachtete, sondern als „Seele" als etwas von
Gott gegebenes Geistiges, so wäre ich vielleicht niemals in
diesen objektiven Selbstbetrachtungszustand der Ichanschauung
gekommen. In dem Augenblick, wo der Mensch seines Ichgefühls
bewußt wird, und zugleich dieses als sein eigenes
erkennt, ist eine objektive Ichanschauung wie schon gesagt
nicht mehr möglich. Er kann überaus schwer das Ich bewußt
erleben und schauen (wie unbewußt der Irrsinnige), sondern
er kann nur aus seinem sich bewußten Ichgefühl herausdenken
und herausfühlen, was eigentlich vollkommen genügt, um den
höchsten Grad der Intelligenz zu erreichen, die sich zur
Genialität entwickeln kann, wenn er fortwährend bewTußt aus
seinem sich bewußten Ichgefühl, das zugleich das Ich der
ganzen Menschheit und der Außenwelt ist, herauslebt, herausschaut
. —
Es ist also eigentlich nicht erforderlich, das Ich zu
schauen und zu erleben, um genial zu werden. Das Icherlebnis,
die Ichanschauung, ist unabhängig von der Intelligenz und der
Genialität und hat nur theoretischen Wert. Aber für die
Psychiatrie ist das Icherlebnis, die Ichanschauung, das
Ichbewußtsein, von praktischer Bedeutung und von sehr großer
Wichtigkeit, sogar unerläßlicher Bedingung, denn das Wesen
der Geisteskrankheiten ist, wie schon ^angedeutet, nur das Ich-»
bewußtsein auf zweierlei Arten, nämlich mit oder ohne Objektivität
. Organische Gehirndefekte (syphilitische Gehirnparalyse,
Hirneiterung und Erweiterung etc.) gehören natürlich nicht
hierher. Man kann aber bei jenen rein psychischen „Geisteskrankheiten
" nicht mit physischen Heilmitteln helfen. Der
Psychiater hat allein die Aufgabe, dem Kranken, der eigentlich
nicht geisteskrank, sondern nur „ichbewußt" ist, aus
seinem Ichbewußtsein herauskommen zu helfen, wo es noch
möglich ist, wenn er sich noch nicht zu tief in seinem Ichbewußtsein
verirrt hat und noch bewußt der Außenwelt gegenüber
steht. Dazu muß aber der Psychiater das Ichbewußtsein
mit und ohne objektive Reflexion und den daraus entstehenden,
psychischen Vorgängen und Aeußerungen, das Wesen der sogen •
Geisteskrankheiten, auch tatsächlich in der objektiven und
subjektiven Selbstbetrachtung erlebt und selbst geistig geschaut
haben, um die Art des Ichbewußtseins des „Kranken*4 erkennen
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