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482 Psychische Studien. XL VII. Jahrg. 9. Heft. (Sept. 1920.)
philosophischen Gesichtspunkten ausgeht, hat also unwillkürlich
die Kantsche Grundauf f.assung von der Subjektivität des Raums
und der Zeit bestätigt und kritisch festgestellt; er hat aber gleichzeitig
die Seinsgrenze der Erkenntnisphänomene auf mathematisch
-physikalischem Gebiet betrachtet und hier etwas herausgearbeitet
, was im Gegensatz steht zu den nur hinaus ins Objektive
projizierten Formen der menschlichen Erkenntnis. Sein objek-
ti\ er physikalischer Maßstab und seine Feststellungen verfolgen
nun die Seinsgrenze und sind metaphysischer Natur, insofern das
subjektiv Menschliche ausgeschaltet wurde. Gleichwohl wird auch
hier mit der Natur unseres Verstandes gearbeitet, von der niemals
abstrahiert werden kann, und insofern bleibt auch der Ein-
steinschen Naturerkenntnis das Gepräge der Menschlichkeit. Es
kann aber auch keinen vernünftigen Sinn haben, Wissen und Erkennen
ihres menschlichen Gepräges zu entkleiden: soweit kann
ein Erkenntnistrieb niemals ins Objektive entgleiten. Den
Charakter der Denkformen muß er sich durchaus wahren, da sonst
mir sinnloses Erkennen — contradictio in adjecto — erzeugt
würde. Die Denkformen selbst haben also einen Charakter, der
in eine etwaige Metaphysik hereinbezogen werden muß. Hat
man für diese Forderung Verständnis, so wird man edne wirkliche
Naturerkenntnis für möglich halten, eine Physik, welche
zugleich die Seinsgrenze der Dinge beschreibt und insofern Metaphysik
und nicht nur eine Projektion des Verstandes in die Natur
ist. Dazu hat offenbar Einstein einen weiteren Schritt getan.
Merkwürdigerweise zeigt sich aber in der ganzen Angelegenheit,
daß die Natur uns auf dem neuen Wege keine grundstürzenden
Aenderungen bietet; was sich großartig ändert, sind nur die
philosophischen Auffassungen, für die wir durch Kant vorbereitet
waren; wras sich in ganz kleinen Beträgen ändert, sind physikalisch
-astronomische Feststellungen, wodurch bewiesen ist, daß
der menschliche Verstand ohnehin sich schon recht gut der objektiven
Wahrheit angepaßt hatte.
Wenn in einem beliebigen Erkenntnisakt das Denken die
Seinsgrenze berührt und systematisch abtastet, wodurch eben
Wissen zustande kommt, so mag dennoch eine weitere Sphäre des
Seins vom direkten Denken unberührt bleiben. Eine neue Art
Metaphysik könnte hieraus abgeleitet werden, die sich zum realen
Naturerkennen verhält wie die Körperlichkeit zur bloßen Fläche
oder gar zur Linie. Die Seinsgrenze wäre demnach eine ein- oder
zweidimensionale; die Seinsfüllung jedoch hätte eine Tiefendimension
, die vorher nicht in Betracht kommen konnte; jetzt aber
wäre sie offenbar für intuitive Wahrheiten oder für Religion. — Im
Gegensatz zu der Einsteinschen Physik würde hier gerade das
Subjektive herausgearbeitet und befruchtet. Wie der Verstand
die objektive Geltung veftritt, so die Seinsfüliung des Menschen-
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