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Specht: Ludwig Klages.
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Ludwig Klages.
Von Prof. Wilhelm Specht.*)
Wir stehen heute auf dem Höhepunkt einer mechanischen
Epoche, die als Siegeszug der technischen „Kultur" gepriesen
wird, die aber tatsächlich die Erstarrung und Verödung des Lebens
in seiner ursprünglichen Fülle bedeutet und die ihren tiefen Grund
hat in der Überwältigung der Seele durch den rechnerischen
Verstand, durch die Verneinung alles nur Erschaubaren, das Auflösen
alles Letzten und Irrationalen, alles Persönlichen und Lebendigen
in unpersönliche Teile, in dem Ernstnehmen und Fürwahrnehmen
der vom Verstände begriffenen Welt, wie sie uns
das Weltbild der mathematisch-physikalischen Wissenschaft zeigt
— einer Epoche, die schon in manchen Auswirkungen der Renaissance
in Erscheinung tritt, die aber ihren unheilvollen, lebens-
ieindlichen Zerstörungsprozeß deutlich erst anhebt mit dem Ende
der deutschen Romantik. Wie wir den Wirkungen dieses Prozesses
in allen Äußerungen menschlichen Lebens begegnen, wie
sich auch die Wissenschaft der mathematisierenden und atomi-
sierenden Weltbetrachtung nicht haben entziehen können, so ist
es besonders die Seelenkunde, die Psychologie, gewesen, die von
jener mechanistischen Betrachtungsweise unheilvoll beeinflußt
worden ist.
Gewiß muß die Psychologie, da ihre Erkenntnisse allgemein
gültig sein sollen, von der einmaligen lebendigen Individualität
abstrahieren. Aber indem sie alle Beziehungen zur Persönlichkeit
überhaupt verlor und nach dem Vorbild der Naturwissenschaft
das Seelenleben in letzte Elemente zerlegte, ist sie die wirklichkeitsfremdeste
Wissenschaft geworden.
In leidenschaftlicher Haltung gegen jenen lebensfeindlichen
Geist der Zeit, in tiefem Mißtrauen gegen den Geist der herrschenden
Psychologie, lange vereinsamt und von der Schulwissenschaft
nicht verstanden oder abgelehnt, hat Ludwig Klages in einer
Reihe grundlegender Werke nun gerade die lebensvolle Persönlichkeit
wieder in den Mittelpunkt der Forschung gerückt und mit
stetig wachsendem Erfolg ist er am Werk, die Wissenschaft von
der Seele auf ganz neue Grundlagen zu stellen. Indem er die
Fäden, aufnahm, die sich von der Romantik zu Nietzsche spinnen,
erkannte er mit Seherblick, daß die Sprache nach ihrem Ursprung
nicht nur Begriffsausdruck ist, was sie erst in den romanisierenden
Sprachen nach dem Absterben ihrer Wurzeln wurde, daß vielmehr
, wie Fichte einmal sagt, die Menschen von der Sprache gebildet
werden, wie die Sprache von den Menschen, und daß gerade
die ursprünglich und lebendig gebliebene deutsche Sprache,
*) Wir entlehnen diese wertvolle, uns von Dr. Freiherrn v. Schrenck-
Notzing gütigst eingesandte Studie den „Münchener Neuesten Nachrichten44
Nr. 161 vom 21. VL er. — Schriftl.
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