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Psychische Studien.
Monatliche Zeitschrift,
vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des
Seelenlebens gewidmet
47. Jahrg. Oktober-November 1920.
L Abteilung
Historisches und Experimentelles.
Dem Gedächtnis Wundt's.
Von Dr. Arno Günther.
Mit Genehmigung des Herrn Verfassers entnehmen wir nachstehenden
Nachruf den „Leipz. Neuest. Nachrichten" vom 1. September
1920:
Wilhelm Wundt f.
Wilhelm Wundt, der greise Philosoph, ist am
31. August in seinem Landhaus zu Großbothen kurz
nach Vollendung seines 86. Lebensjahres sanft entschlaf
e n.
„Schwerlich hat es einen Gelehrten gegeben, der mehr gewußt,
sicherlich aber keinen, der auf bloße Vielwisserei einen geringeren
Wert gelegt hätte." Dem Geistesriesen Leibniz ist diese Kennzeichnung
gewidmet worden. Die ehrfurchtsvolle Hochachtung der
Zeitgenossen wird es aber ebenso bedingungslos für den Mann
gelten lassen, der es vor wenigen Jahren niedergeschrieben, und
der jetzt seine Augen geschlossen hat, für Wilhelm Wundt. \on
dt*r Medizin ist er ausgegangen, die weilen Gefilde der Naturwissenschaften
hat er scharfblickend durchmessen, in den Schächten
der Geisteswissenschaften hat er tief geschürft, um tschließlich
gestützt auf sedn gewaltiges Wissen und sein erstaunliches Können,
die durch die Einzelwissenschaften vermittelten Kenntnisse in
einem künstlerisch wohlgerundeten, glänzend gegliederten System
der Philosophie zusammenzufassen. Die Gegebenheiten des
Lebens hat er nicht nur mit der durchdringenden Klarheit des
Verstandes begriffen, sondern er hat darüber hinaus auch mit der
Kraft der Vernunft die letzten Zusammenhänge ergründet. Kein
Wissensgebiet war ihm fremd. Kein Wissensgebiet ist vorhanden,
das ihm nicht fördernde Anregung verdankt. Und wenn auch das
umfangreiche Ergebnis der gesegneten Lebensarbeit Wundts noch
nicht allenthalben in die Breite der Allgemeinheit gedrungen ist,
so liegt das in der Erfahrung beschlossen, daß das Wesen der
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