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Tischner; Ludwig Aub. Eine p,sychol.-okkult. Studie. 601
mit dem Skeptiker skeptisch, dem Monisten ist er ein Monist uhd
dem Dualisten gegenüber fühlt er sich als Dualist, beim intellektuell
Veranlagten läßt er diese Seite anklingen und beim Gefühls-
schwärner jene. Aber alles das ist er weder aus Urteilslosigkeit
noch aus Charakterlosigkeit und Falschheit, wie der Grabsinnige
und oberflächlich Urteilende vielleicht denken könnte, der Feinfühligere
merkt sofort, daß diese Eigenschaften Aubs aus einem
andern Boden hervorwachsen und anders beurteilt werden müssen
, er wird deshalb nicht in dem üblichen Sinne des Wortes von
„Charakterlosigkeit" sprechen. Um ein Gleichnis aus der Physik
zu gebrauchen: jede in seiner Gegenwart angestrichene Saite läßt
auch bei ihm die darauf abgestimmte anklingen, — und er ist
sehr „vielsaitig", fast jede seelische Regung findet bei ihm ihre
Resonanz!
Diese ihm ganz natürliche Eigenart auf jeden Menschen anders
„anzusprechen", tritt selbstverständlich noch in ganz anderem
Maße hervor, wenn er sich bei einer Untersuchung in den andern
einzufühlen versucht. Wenn er derart gefühlsmäßig das psychische
Leben des andern lebt, dann ergibt sich gewissermaßen, wenn
einiges ihm schon b e kannt oder von ihm e r kannt ist, das andere
vielfach von selbst ohne Kombination, Nachdenken usw., ganz
ähnlich wie in der Paläontologie nach dem Gesetz der Korrelation
die Kenntnis eines Knochens die Rekonstruktion des ganzen
Tieres ermöglicht — oder besser noch, wie bei den Hypnotisierten
, denen man irgendeine Körperhaltung beibringt — ihnen
etwa die Fäuste ballt, — und die dann ganz von selbst die Stirn
zornig falten und zornige Gemütsstimmung verraten.
Schließlich ist immer das in Betracht zu -ziehen, was man mit
dem etwas unklaren Ausdruck „Intuition" bezeichnet, und wir
wollen den Ausdruck dahin verstehen, daß eine auf kleinste
Anzeichen aufgebaute unterbewußte Gedankenkette zu höchst
überraschenden Schlüssen führt, vergleichbar und im Grunde
wohl wesensähnlich mit der unterbewußten, genialen Geistestätigkeit
, die oft die entlegensten Dinge — alles Dazwischenliegende
überfliegend — miteinander verbindet, und auf diese
We se zu ganz neuen Erkenntnissen kommt, die der Ungeniale
erst später auf Grund eines viel reicheren Materials nachprüfen
kann und bestätigen muß.
Zu seiner weiteren Kennzeichnung sei noch erwähnt, daß Aub,
der in der Mitte der Fünfziger steht, Jude ist wie auch Raphael
Schermann, der Wiener Seher, also ein Abkömmling einer alten,
vielfach überfeinerten Rasse mit sehr labilem Nervensystem, was
sich ja bei ihnen auch sonst vielfach in Abwegigkeiten und nervösen
Erkrankungen zeigt. Als hervorstechenden Charakterzug
möchte ich eine große, herzgewinnende Güte erwähnen und ein
allseitiges tiefes Verstehen seiner Mitmenschen. Und es ist klar,
nur indem er sich positiv einstellt und „Ja" sagt zu all den Seltsamkeiten
in der Seele seiner Mitmenschen, kann er die Leistun-
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