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Gaupp; Zur Psychologie der polltischen Willensbildung. 621
Reichstagswahlen der Bestätigung bedurfte. Wir wissen, daß sie
diese Bestätigung erhielt, und ich habe mit Gelassenheit die vielen
Triumphartikel der rechten und linken Extremisten gelesen, die
über den Zusammenbruch der mittleren Parteien jubelten. Als
man sich nach den Wahlen den Schaden besah, erkannte man, daß
die Leidenschaft zwar die Stimme der Massen gewonnen hatte,
aber daß eben blinde Leidenschaft nicht politisches Können bedeutet
. Weil aber ein gewisses Maß politischen Könnens durch
die dringende Notlage alsbald gefordert wurde, fügte man sich
einer aus der zusammengebrochenen Mitte hauptsächlich gewonnenen
Regierung. In ihr gewinnen einzelne Männer langsam an
Ansehen und Vertrauen, obwohl die blinde Angst und Wut der
Franzosen die Festigung der deutschen Verhältnisse auf jede ausdenkbare
Weise erschwert. Wem dann nicht der Parteihaß das Blickfeld
verengt, der erkennt, daß die sittliche Verwilderung, dieses
entsetzliche Kind des Krieges und der Revolution, der gefährlichste
Feind des deutschen Volkes geworden ist. Diese Verwilderung
wächst nach den Gesetzen der Psychologie durch die andauernde
Schwächung der staatlichen Autorität, durch den sinnlosen
Haß gegen die Männer, die sich um ihre Wiederaufrichtung
mühen, durch das verantwortungslose Ausleben aller mißvergnügten
Stimmungen, in denen man in hysterischer Pose die Miene
des Richters annimmt und hinter dem ewig wiederholten Ruf nach
dem „starken Mann" die eigene Schwäche verbirgt.
Was wir brauchen, ist nicht der „starke Mann", sondern sind die
hunderte und tausende besonnener ernster und verantwortungsfähiger
Männer und Frauen, die endlich einmal die Stimmungspolitik
zum Hause hinausjagen und — in bitter ernster Erkenntnis
unserer schweren Lage, die liebe zu Heimat und Volk im gebändigten
Herzen — das heute und sofort Nötige tun. Der starke
Wille verrät sich in der Beherrschung des eigenen Ichs. Wo diese
Selbstbeherrschung wohnt, gibt es keine Stimmungspolitik, kein
albernes Gefasel von Klassenhaß als der Voraussetzung eines
besseren neuen Deutschlands, keine schwächliche Stimmungsromantik
, mit der man sich um seine Selbstverantwortung herumbetrügt
, keinen faden Salonkommunismus ästhetischer Prägung,
der beim ersten Flintenschuß in die Binsen geht.
Wir brauchen die durch Selbstzucht und Selbstbeherrschung gewonnene
Kraft der schonungslos nüchternen Erkenntnis unserer
außen- und innenpolitischen Lage; wir brauchen die tiefe Einsicht
in die Relativität aller Empfindungen der Lust und Unlust,
weil es olme sie keinen wahren Opfersinn gibt; wir brauchen die
ehrliche Opferbereitschaft um der Erhaltung unseres Volkes und
Staates willen; wir brauchen den ethischen Sozialismus eines
Fichte, weil für uns Sozialismus eine Frage der Gesinnung, nicht
der Wirtschaftsform ist; wir brauchen die ruhige Sammlung der
Seele, ohne die es keine Einfühlung in die Seele des andern gibt,
und wir brauchen diese Einfühlung, soll jemals wieder Frieden in
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