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Zeller: Offener Briet an Hermann Hesse.
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von Kniffen und Ausreden. — Aber, Freunde, ist dies jemals
anders gewesen? Und ist es unsere Sache, das Unabänderliche
ewig neu in lauten Klagen festzustellen ?"
Was wir vorher hatten, war nichts als Schein und Theater,
unser Kaiser, unsere Generale, unser Richard Wagner, unsere
Professoren. Jetzt, wo wir all dies verloren haben, benehmen
wir uns in der kläglichsten Weise (S. 30f.): „Ihr verlieret viel,
an Geld und an Provinzen, an Schiffen und an Weltmacht. Wenn
ihr dies nicht vertragen könnt, so gehet hin und sterbet von
eurer eigenen Hand, am Fuße eines Kaiserdenkmals, und ich will
euch ein Grablied singen. Aber stehet nicht und flehet wehklagend
das Erbarmen der Weltgeschichte an, ihr, die ihr eben
noch das Lied vom deutschen Wesen gesungen habt, an dem die
Welt genesen soll, stehet jetzt nicht als bestrafte Schulkinder am
Wege und rufet das Mitleid der Vorübergehenden an! Könnet ihr
Armut nicht ertragen, so sterbet! Könnt ihr euch ohne Kaiser und
siegreiche Generale nicht regieren, so laßt euch von Fremden
regieren! Aber vergesset, ich bitte euch, der Scham nicht völlig 1%<
Dabei haben wir keine einzige große Persönlichkeit, Hinden-
bürg und Ludendorff sind ja eure „Generale*', auch auf geistigem
Gebiet haben win keine Taten aufzuweisen. Wir waren nur ein
Krämervolk ohne viel höhere Interessen (S. 24): „Und sehet
doch, was ihr mit eurem vielen Tun und eurem vielen Fleiß und
euren rußigen Gewerben erreicht habet! Was ist denn noch davon
da? Das Gold ist dahin und mit ihm der ganze Glanz eures
feigen Fleißes. Oder wo ist die Tat, die ihr mit all eurem Tun erzeugt
hättet? Wo ist der große Mensch, der Strahlende, der Täter,
der Held? Wo ist euer Kaiser? Wer ist sein Nachfolger? Wer soll
es werden? Und wo ist eure Kunst? Wo habt ihr die Werke,
die eure Zeit rechtfertigen? Wo die großen, freudigen Gedanken?
Ach, ihr habt viel zu wenig, viel zu schlecht gelitten, um Gutes
und Strahlendes zeugen zu können!" Unsere Vaterlandsliebe
war großenteils nur kleinlicher Egoismus und törichte Einbildung
(S. 17 f.): „Vielleicht ist es nicht das Volk, das dir wehtut und
nicht das Vaterland, und nicht die Weltmacht, und auch nicht die
Demokratie — vielleicht ist es einfach du selbst, dein Magen
oder deine Leber, eine Geschwulst oder ein Krebs in dir — und
es ist nichts als Kleinkinderfureiht vor der Wahuheit und vor dem
Arzte, wenn du dich stellst, als seiest du selbst ganz und gar
gesund, aber leider bedrückt dich ein Leiden deines Volkes so
sehr? Ist das nicht möglich? Seid ihr nach dieser Seite hin gar
nicht neugierig ?" Unsere Unbeliebtheit in der Welt ist vollkommen
verdient, weil wir uns mit falschen Tugenden brüsteten,
weil wir ums selbst untreu wurden. Es gibt Erfolge, denen die
Welt zujubelt, aber solche sind uns nicht gelungen. „Warum
habt ihr nie solche Erfolge gehabt, warum immer nur jene
andern?
Weil ihr euch selber untreu wäret. Ihr spieltet eine Rolle,
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