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Zeller: Dem Volke eine neue Religion.
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Dem Volke eine neue Religion«
Von Dr. Gustav Zell er (Harburg.)*).
Für den Gebildeten mag sie genügen, die Religion eines Goethe,
wie er sie in der Iphigenie, ian Faust, in den Wanderjahren darstellt
, oder die Religion des kategorischen Imperativs eines Kant,
die weltverneinende Mystik eines Schopenhauer oder der lebensfreudige
, heroische Idealismus eines Nietzsche. Aber wovon soll
der einfache Mann im Volke leben, zumal derjenige, dem die
Bibel als Autorität ins Wanken gekommen ist? Wer, wie der
Verfasser, Gelegenheit hatte, in jahrelangem Verkehr das innerste
Denken des Volkes, des Handwerkers, des Arbeiters, des Bauern
Kennen zu lernen, weiß, daß der Gebildete hier eine geradezu
gebieterisch drängende Pflicht hat.
Es gilt, eLie tiefe Lücke in der Erziehung unseres Volkes auszufüllen
. Die Kirche leistet wTohl noch weitaus die Hauptsache in
der sittlich-religiösen Bildung unseres Volkes. Ohne ihren, wenn
auch nur indirekten, Einfluß w7ären die Massen noch weit mehr
verwahrlost, als dies jetzt schon der fall. ist. Aber, zumal in den
großen Städten, versagt ihre Autorität immer mehr. Die Führer
der Masse haben ihr schon längst den Rücken zugekehrt. Wohl
sucht der liberale Protestantismus nicht ohne Erfolg Religion und
moderne Bildung harmonisch zu verbinden. Aber sein Wirkungs*
gebiet ist begrenzt. Immerhin gibt er die Richtung an, in der
die Entwicklung sich vollziehen muß. Christus und Plato, Religion
und Wissenschaft müssen sich die Hand reichen. Nur ist
die Frage, ob der Weg, den der moderne Protestantismus bis jetzt
eingeschlagen hat, zum Ziele führt.
Nun sind in den letzten Jahrzehnten eine ganze Anzahl von
merkwürdigen Tatsachen in den Gesichtskreis der Wissenschaft
getreten, die eine völlige Umgestaltung unseres bisher stark materialistisch
gefärbten Weltbildes herbeizuführen geeignet sind.
Ich erinnere hier an die Tatsachen der Tiefenpsychologie, wie
sie z. B. in Oskar Kohnstamms Broschüre „Medizinische und
philosophische Ergebnisse der hypnotischen Selbstbesinnung'*
(München, Reinhardt 1918) dargelegt sind, aus denen sich das
*) Obiger für weitere Kreise bestimmter Aufsatz ist ein u. E. sehr
wertvoller Versuch, die Ergebnisse theoretischen Forschens praktisch
nutzbar zu machen, ungemünztes Gold in gangbare Münze umzuwandeln.
Bei der furchtbaren Gefahr, die augenblicklich unserer ganzen höheren
Kultur droht, schien uns eine Stellungnahme zu diesen praktischen
Fragen der Gegenwart in den „Psych. Studien" nicht unangebracht.
Im August- und Septemberheft der neuen Zeitschrift „Der 6. Sinn" hat
Verf. einen Aufsehen erregenden Artikel über „Religion und siderischen
Pendel" veröffentlicht, worin nach eingehender Untersuchung des Wesens
der Religion vom Standpunkt der Tiefenpsychologie und Religionspsychologie
eine ganze Reihe von hochinteressanten Aeuföerungen der
„Pendelintelligenz" über religiöse Fräsen mitgeteilt werden. — Wir
kommen im nächsten Heft auf die Pendelforschungen des Herrn Verf.
näher eingehend zurück. — Schriftl.
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