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30 Psychische Studien. XLVIFI. Jahrg. 1. Heft. (Januar 1921.)
man sie aufs transzendentale Gebiet hinübergerettet. Eine
„transzendentale Willensfreiheit" aber kann es nach obigen
Gründen erst recht nicht geben. Jedenfalls war die
^Willensfreiheit" seit jeher ein geeigneter Vorwand, um die Religionssubjekte
von der Verantwortlichkeit für die entsittlichenden,
selbstsucht*gesetzimäßigen Lebensverhältnisse zu entheben. Nur
auf dem Verbrecher und Bösewicht sollte die „Selbstverantwort-
lichkeit" lasten, nicht ab**r auif der Oesellschaft. Für diese
sonderbare Auffassung des Verbrechens hatte ein alter Wiener
Arzt als Erwiderung nur drei Worte: „Ich — armer
— Mensch!"---
Erst nachdem wir erkannt haben, den Menschen als das Ergebnis
, als die Synthese der AnJageVererbung seiner elterlichen
Geschlechtsreihen und die vollständige Bedingtheit der empirischen
Sittlichkeit durch die herrschenden Lebensverhältnisse,
rückt die Verbesserung (Vermenschlichimg..., Vergöttlichung)
oder Invertierung der herrschenden Lebensverhältnisse im Sinne
des Gesetzes der göttlichen Liebe, d. h. die Überwindung der
„Teufelsherrschaft" des Gesetzes der Selbstsucht, als Zentralaufgabe
in den Mittelpunkt des religiösen Lebens.
Aber auch die Bedeutung amd der Sinn des Lebens (das
„Wozu?") erfährt durch die Hypothese des natürlichem Ursprungs
der Seele eine gänzliche Umstellung oder richtiger gesagt
: Umkehrung. Diese Umstellung würde rehgionstheoretisch
nicht mehr und nicht weniger bedeuten als den Abbruch der
rückwärtigen theistischen Beziehung, der alten Religionshinter-
brücKe, und die Herstellung einer vorwärtigen, d. h.: den Über*
gang von der bisherigen retrospektiven (— von rückwärts
her orientierten und konstruierten) Religionsauffasaumg zur prospektiven
(-- nach vorwärts, nach der Gottheit hin orientierten
) Religionsauffassung, — somit die denkbar größte geistige
Umwälzung der Menschheit.*)
Wenn, die menschliche Seele natürlich oder phyletisch entstanden
ist als ein besonderer Zustand („individuelle Konzentration")
der seelischen Weltmaterie, dann ist das irdische Leben keine
„moralische Veranstaltung" und die Erde keine „Pflanzschule
für Geister", — dann ist die sittliche Vollkommenheit kein durch
eine „Erbsünde" verlorengegangener Urständ der mensclichen
Seele, sondern muß von der Menschheit erst erarbeitet werden
. Die Begriffe „Sittlichkeit", „Menschlichkeit",... „Göttlichkeit
", „Tugend", „sittliche Weltordnung", „Gerechtigkeitl,.*.
mußten erst von der Menschheit in jahrtausendlangen schmerzlichen
Erfahnuingen mit „Ach! und Krach!" erwirtschaftet werden;
— sie sind, ebenso wie die Vernunft, Weisheit und Kunst, Ergebnisse
, „Blüten!" des an sich amoralischen, vorsehungslosen
, vernunftlosen Weltprozesses. Diese Einsicht gehört auch
*) Theoretisch durchgeführt in dem bei 0. Mutze, Leipzig 1919, erschienenen
religionsreformatorischen Buch „Der Invertismus".
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