http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0038
34 Psychische Studien* XLVIIL Jabrg. 1. Heft. (Januar i921.)
Bewußtsein zum Spiritus rector unseres Daseins auf wirft. Nu
wenn dies unnatürliche Verhältnis in Wertschätzung von Seeh
und Geist uns klar geworden und wir den let&eren in seine natür
liehen Schranken zurückgewiesen haben, können wir die Spraciu
der Seele richtig erfassen und an die Erforschung ihrer Funk
tionen herantreten.
Diese sind in der Hauptsache zweifacher Natur: die Seele er
hält den Menschen als lebendes Individuum, d. h. sie ist unsere
belebende und erhaltende Kraft, und fernen unterhält sie den
Menschen im Zusammenhang mit dem Ganzen, d. h. sie verbindet
das Individuum mit dem Universum. In ersterer Funktion lenkt
und regelt sie unsere unbewußten Lebens Vorgänge im Körper, bewahrt
und beschützt uns vor Gefahren, leitet und befruchtet
unsere Sinnes- und Geistestätigkeit, kurz sie ist uns überall ein
treuer Helfer, Wächter und Berater, wo und so lange nicht unser
Geist als Besserwisser ihre Tätigkeit korrigiert oder lähmt Dann
tritt eine widernatürliche Verschiebung der Kräfte im Menschen
ein, die Seele wird von ihrer natürlichen Tätigkeit abgedrängt,
und der Verstand tritt an ihre Stelle. Damit verschwindet aber
auch das Verständnis für die Funktion der Seele nach der anderen
Seite hin: das Verständnis für unseren inneren Zusammenhang
mit dem Ganzen. Der Individualiemus im Menschen wird
zum Egoismus, und die altruistischen Regungen der
Seele finden keine Beachtung mehr und kein Gehör. Zu diesen
gehört auch die Telepathie.
Ich nenne die Telepathie eine altruistische Regung der Seele,
weit uns hier nur jener verhältnismäßig kleine Teil des unermeßlich
großen Gebiets telepathischer Erscheinungen interessiert, der
sich auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch bezieht. Wir ersehen
da zunächst aus der Telepathie das Bestehen einer seelischen
Verbindung unter den Menschen und werden der Überleitung
seelischer Vorgänge auf dem Wege dieser Seelenverbindung
von Person zu Person gewahr. Allerdings gehören diese
Wahrnehmungen heutzutage zu den Seltenheiten. Ich habe schon
ausgeführt, daß uns die einseitige Über- und Verbiidung unserer
Geisteskräfte gegen die Regungen der Seele abstumpft und unempfindlich
macht. Die ständige Unruhe und Hast unserer Gedankenproduktion
und deren vorwiegend materialistische Richtung
versperrt den Seelenvorgängen Platz und Zutritt in die Ge-
hiraitätigkeit und schafft eine geringschätzige, verächtliche, ja
geradezu feindliche Gegenwirkung und Absperrimg. Gleich einem
Störenfried im absoluten Hoheits- und Herrschergefühl des
Geistes und in dessen selbstsüchtigen Bestrebungen wird die
Seele mit ihren Regungen nach Möglichkeit ausgeschaltet Ich
betone: nach Möglichkeit, denn eine vollständige Ausschaltung
seelischer Einwirkungen ist natürlich ausgeschlossen, da die Seele
als Lebeniselement immer ihren Einfluß auf die körperlichen
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0038