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72 Psychische Studien. LXVIII. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1921.)
ria crucis". Es liegt die Vermutung nahe, daß die Vision ein Bild
der Hinrichtung des heil. Paulus war, denn die Haltung des die
Messe zelebrierenden Priesters, wie sie in dem genannten Buch
beschrieben war, mit dem vorgestreckten Hals etc., entsprach
genau dem in der Vision gesehenen Vorgang. Sehr merkwürdig
ist folgendes Erlebnis der Seherin: *)
Miß Lamont kam 1909 auf einer Reise in die Schweiz nach
Konstanz. Sie ging dort in das Hotel „Insel", am See gelegen.
Der Speisesaal war ein großer Raum mit Säulen, der auf einer
Seite nach der Terrasse offen war. Die Bestellerin nahm ihren
Platz am Ende des Saales mit dem Rücken an dem Vorhang,
welcher den Raum von der Küche trennte.
Als sie saß, hörte sie ein Geräusch in der GaJeiue am anderen
Ende des Saales, und ein tiefer, langgezogener Ton wie von einer
Orgelpfeife erklang. Es folgte eine melancholische Weise, dem
Gregorianischen Gesänge ähnlich. Andere Instrumente fielen ein
und menschliche Stimmen wurden vernommen. Die Musik war
schwer und getragen. Miß Lamont sah in der Galerie nach, aber
niemand war dort zu sehen, und die Musik wurde nicht mehr gehört
. Inzwischen kam ein Diener und brachte die Speisekarte.
Nach einiger Zeit kam er wieder; wie Miß Lamont glaubte, stand
er hinter ihr, aber er sprach eine Sprache, welche die Dame nicht
verstand, während er zuerst Deutsch gesprochen hatte. Allmählich
erkannte sie, daß es lateinische Worte waren: (aeeipi . . . ?)
(ver ,..?)... panem, quem dedisti oder ediesti . . . (verum?)
corpus Christi. Über die Worte in () ist sie sich nicht völlig
sicher.
Ganz erstaiuü wandte sich Miß Lamont um und sah uiemand.
Der Diener stand am anderen Ende des Saales . . . Nach dem
Essen erfuhr sie, daß das Hotel ein säkularisiertes Dominikanerkloster
war; der Speisesaal war das Kirchenschiff, der Altar befand
sich bei dem Vorhang, der unmittelbar hinter der Dame
hing. Der Salon war die Marienkapelle, und das Zimmer, das
Miß Lamont zugewiesen erhielt, war eine Mönchszelle. Der
Kirchhof lag unter ihren Fenstern. Später fand Miß Lamont, daß
die Geschichte des Klosters sehr alt war. Die Insel wurde ehedem
von Merowingem bewohnt, und das Kloster war der Palast
Barbarossas.**)
Die beiden Damen gaben sich alle erdenkliche Mühe, in alten
liturgischen Schriften jene Worte zu finden. Miß Lamont kam
im August 1912 wieder nach Konstanz und besuchte auch
St. Gallen, wo sie in der Stiftsbibliothek interessante Anhaltspunkte
erhielt. Das sehiießliche Ergebuis ihrer Forschung war,
**) Das ehemalige Dominikaner-Kloster wurde 1875 zum Inselhotel
umgebaut, enthält das Grab des berühmten Griechen Manuel Chrysolaras
und war 39 Tage lang Huß' Kerker. P.
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