http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0104
100 Psychische Studien. XLVIIL Jahrg. 2. Heft. (Februar 1921.)
klärung ist diejenige, die von vornherein am wenigsten Aussicht
auf allgemeine Anerkennung hat, da sie dem Geschehen in unserer
Welt jede selbständige Bedeutung nimmt und in dieser nur eine
Kopie jener höheren Welt sieht, nach deren Daseinsberechtigimg
man dann vergebens sich fragen muß. Die dritte Auffassung
steht unserem modernen Denken deshalb am nächsten, weil dieses
in dem Geschehen der Sinnenwelt eine lückenlose Verbindung
von Ursachen und Wirkung sieht, dem auch der Mensch insofern
unterliegt, als er dieser Welt der Erscheinungen angehört, so-
daß seine Willensfreiheit im eigentlichen Sinne nur auf das Gebiet
des sittlichen Handelns beschränkt ist. Allerdings begnügen
wir uns nicht damit, in diesem Verlauf von Ursache und Wirkung
, der das Geschehen ausmacht, ein bloßes Zusammentreffen
verschiedener Bewegungen zu sehen, die wenigstens z. T. nichts
miteinander zu tun haben, sondern die nur durch ihre gegenseitige
Wirkung in ein gewisses Verhältnis zueinander treten.
Wir sind heute gewöhnt, die Welt der Erscheinungen durch die
Naturgesetze gebunden zu sehen, deren Ursprung wir uns zwar
nicht zu erklären vermögen, deren Vorhandensein wir aber nicht
mehr bezweifeln und deren Kenntnis uns in gewissem Sinne
auch ohne höhere Fähigkeiten einen Einblick in den Verlauf
der Ereignisse in Zukunft ermöglicht. Man hat daher versucht,
auch das Geschehen an sich auf solche Weise zu begreifen,
indem man gewisse Gesetze (z. B.das Gesetz der Primzahlen)
aufgestellt hat, auf Grund deren jene Schwingungen vor sich
gehen sollen. Verhält sich das so, so gelangen wir zu einer
Erklärung des Hellsehens, die unseren Erfahrungen der Sinneswelt
entspricht, ohne daß wir zu der Kantischen Anschauung
unsere Zuflucht nehmen müßten. Darauf werden wir aber auch
durch das Problem der Kausalität selbst hingewiesen, soweit
es sich dabei um solche Ursachen handelt, die nicht von außen
her eine solche Reihenfolge beeinflussen, sondern die innefB&lb
dieser Reihe selbst gelegen und auf den Ausgangspunkt selbst
zurückzuführen sind. So sind in der Keimzelle alle Vorbedingungen
des künftigen Organismus enthalten, und ich bin in
der Lage, richtige Schlüsse auf dessen Werden zu machen, wenn
mir das Wesen jener Zelle bekannt ist. Wir können also unter
Umständen eine solche Kausalitätsreihe vorausbestimmen, wenn
wir das Anfangsglied kennen und können auf diese Weise einer
für uns schädlichen Kausalreihe aus dem Wege gehen,*) es
*) S. darüber Mayer: Zweites Gesicht und Willensfreiheit (Ps. St.,
46. Jhrg., 1. Heft, p. 7 ff.). Bezeichnende Beispiele für ein solches
Vermeiden ungünstiger Kausalreihen finden sich in J. Kerners Seherin
von Prevorst, p. 161 (Reclam): Die Somnambule sieht alle Einzelheiten,
wie ihr Bruder an einem bestimmten Tage im Walde von einem Holzdieb
erschossen wird; als er an jenem Tage erst später an jene Stelle
geht, verfehlt ihn der Holzdieb, den die Seherin genau beschrieben hat.
Ähnlich ist ein anderer Fall (p. 163), wo sie sieht, daß ihr Bruder auf
einer Fuchsjagd durch falsche Ladung des Gewehres erschossen wiid;
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0104