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178 IVyclmehc Mudietu \L\ Ul. Jahr« 3. lieft. (Mar/ 1*121.)
aus kopfstehend, und es bestand ein unlöslicher Widerspruch
zwischen den optischen Vorstellungen und den Eindrücken des
Tastsinnes. Alles Gesehene mußte erst umgedeutet, im Geiste
umgedreht werden, um verständlich zu werden. Die ausgeführten
Bewegungen waren meist ganz verkehrt. Mit großer Mühe
wurden die meist in entgegengesetzter Richtung gemachten falschen
Bewegungen verbessert, wenn es galt etwas zu erreichen
oder vielleicht einem Hindernis auszuweichen. Bei kleinen Bewegungen
des Kopfes schien das ganze Gesichtsfeld zu schwingen.
Es läßt sich begreifen, daß in der ersten Zeit durch dieses in
wörtlichem Sinn vollständig verkehrte Weltbild das Allgemeinbefinden
herabgesetzt wurde, ja es stellte sich sogar Übelkeit ein.
Trotzdem setzte Stratton den höchst sinnvoll erdachten Versuch
mit Hingebung fort, und da änderten sich "denn mit überraschender
Geschwindigkeit die optischen Empfindungen. Von Tag zu
Tag verminderte sich der visionäre Eindruck der Außenwelt, und
sie ei schien immer wiiklicher. Jedoch traten zunächst immer
wieder Erinnerungsbilder in der normalen Form, wie sie vor dem
Versuch bestand, ein. Der Zwiespalt zwischen dem alten nnd
neuen Weltbild wurde mit der Dauer des Versuchs immer geringer
, und er verschwand am vollkommensten, wenn die Versuchsperson
in einer sie stark beschäftigenden Tätigkeit begriffen
war, während im Zustand der Ruhe und Reflexion der Widerstreit
zwischen der alten und neuen Welt-,, Anschauung" (wie man
hier im eigentlichen Sinne des Wortes sagen kann) nie ganz aufgehoben
war. In den letzten Tagen herrschte aber durchaus die
neue Ordnung vor, und die Dinge erschienen in ihr vollständig
aufrecht und wirklich. Als jedoch Stratton nach Beendigung des
Versuchs den Umkehrungsapparat ablegte, da sah er mit seinen
ganz normalen Augen im Anfang wieder alle Gegenstände seiner
Umgebung verkehrt bis er sich neuerdings au die gewöhnliche
Art zu sehen gewöhnt hatte.
Aus seinen Versuchen zieht Stratton den Schluß, daß die Übereinstimmung
der Gesichtseindrüeke mit den Ergebnissen des Tastsinns
nur durch die Erfahrung erworben wird und daß daher die
Zuordnung einer Gesichtsempfindung zu einer bestimmten Tastempfindung
durch eiue neue Erfahrung, wie in seinem Versuche,
aufhebbar und umsteilbar ist. Die verkehrte Lage des Netzhautbildes
sei nicht notwendig, um die Übereinstimmung zwischen
Gesicht «und Tasten (und weiter bedeutet „Aufreehtsehen" nichts)
herzustellen.
Unrichtig ist die sogenannte Theorie der Erziehuug des Sellens,
Danach sollen wir ursprünglich die Gegenstände genau so sehen,
wie sie auf die Netzhaut projiziert werden; erst die Erfahrung
durch die anderen Sinne soll uns zur Umkehr des gesehenen
Bildes veranlassen. Aber die Erfahrung an Blindgeborenen, die
als Erwachsene durch eine Operation das Sehvermögen erhielten,
lehrt, daß die ersten Gesichtsein drücke gegenüber den früheren
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