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246 Psychische Studien. XLVIir. Jahn*. 4.-5. Heft. (April-Mai 1921.)
hier kaum an ein bloßes Erraten glauben kann. An dem ganzen
Bericht ist vor allem zweierlei bemerkenswert: die Art und Weise,
wie er zustande gekommen ist, und die Tatsache, daß, wie so oft,
die Seherin jene sie im höchsten Grade beunruhigenden Ereignisse
unmittelbar in die nächste Zedt versetzt, so daß sie also die Geschehnisse
ganz übersieht, die inzwischen vor sich gegangen und
von geringerer Bedeutung gewesen sind. Kemmerich, dem wir
das bekannte Werk über Prophezeiungen verdanken, hat die Art
von Wahrnehmungen, wie sie auch den Angaben der Frau von
Mongruel zugrunde liegen, treffend mit den Worten gezeichnet
(p. 337): „Alles ist ein Schauen des Lebens, und obwohl keine
vorhandene Erscheinung der Gegenwart und noch nichts Wirkliches
im menschlichen Sinne, wird es doch räumlich wahrgenommen
, als ob diese Zukunft bereits sinnliche Gegenwart wäre."
Scheinbar werden wir also gerade an der Hand dieses Falles
zu der Kantischen Auffassung vom Nebeneinander der für unsere
Empfindung nacheinander verlaufenden Ereignisse geführt, so daß
also die Seherin eine Reihe von Bildern empfinden würde, die
für sie vollkommen gegenwärtig sind und die ihr nur nach den)
größeren oder geringeren Grade ihrer Aufmerksamkeit mehr oder
weniger deutlich sind. Verfolgt man jedoch diese Aussagen genauer
, so gelangt man eher zu der Auffassung, daß es sich auch
für die Seherin um eine Wahrnehmung von schnell sich panoramatisch
abwickelnden Vorgängen handelt die sich etwa auf einer
Ebene abspielen, die unseren Planeten wiedergibt, so daß man
dabei unwillkürlich an die Darstellungen von kriegerischen Vorgängen
erinnert wird, wie sie etwa während des Krieges in
Form von kinematographischen Vorführungen gegeben wurden.
woW die kämpfenden Parteien durch Figuren* oder dergleichen
dargestellt wurden. Es handelt sich also für die Seherin in dem
vorliegenden Falle anscheinend nur um die Wahrnehmung von
Kraftwirkungen, wobei man nicht einmal an Einzelbilder zu
denken braucht, wie sie vielfach von den Sehern (man denke
z. B. an die bekannte Vision der Frau de Fernem von dem Duxer
Grubenunglück) geschaut werden, da sich auch die Angaben, die
auf ein solches bildliches Schauen hinzudeuten scheinen (etwa
• auf Schlachten in Frankreich), ungezwungen als bloße Äußerungen
der Teilnahme erklären lassen, die sie besönders dem Schicksale
ihres Vaterlandes entgegenbringt. So erklärt sich auch die Eigenart
ihrer Schilderung, je mehr sie mit dem Gegenstand ihres
Interesses, dem Weltkrieg, in Berührung kommt: sie gibt keine
Schilderungen von Einzelvorgängen, sondern sie besehreibt nur
die Rolle, die die einzelnen Mächte in diesem Ringen spielen und
die eben in jenen Kräfte Wirkungen zum Ausdruck kommt, auf
die wir eben hingewiesen haben. Ist aber diese Auffassung
richtig, so werden wir diesen Wahrnehmungen weit eher mit der
Erklärung gerecht, daß es sich hier eben um eine tiefere Wahrnehmung
der Kausalität des Weltgeschehens handelt, zumal wenn
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