http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0268
264 Psychische Studien. XLV1I1. Jahrg. 4.r5. Heft. (April-Mai 1921»;
der (mit Hilfe Österreichs) vielleicht zu überwinden wäre. Die
Erinnerung an den Russisch-Japanischen Krieg war ja noch frisch
und Nikolaus und seine Mannen noch am Regiment. Über Rumänien
und Nordamerika hatte ich mir damals, August 1914, allerdings
noch keine Gedanken gemacht. An einem aber zweifelte
ich schon damals nicht: daß im Falle des Zusammenbruchs — und
der schien mir unvermeidlich — ein Kaiser, der sein Volk einer
solchen herrlichen Zukunft entgegenführt, unmöglich wird —
wenigstens für seine Person. Hatte doch auch Leuß in der „Welt
am Montag" kurz vor dem Kriege einen Artikel geschrieben:
„Wilhelm der Letzte/'
Das alles waren, ich möchte sagen, Selbstverständlichkeiten,
und verwunderlich war nur die geradezu völlige Blindheit, mit
der die.führenden Persönlichkeiten unseres Volkes und die weitesten
Kreise dieses Volkes selbst geschlagen waren. Diese unerhörte
Blindheit war unser Unglück. Für Männer, wie den oben
erwähnten General, hat es in der Nähe Wilhelms II. keinen Platz
gegeben. — Eben jener Selbstverständlichkeit wegen will ich mir
nicht nur keine Prophetengabe zuschreiben, sondern nicht einmal
mich besonderer Einsicht und politischen Scharfblicks rühmen,
nicht im entferntesten. Nichts als ruhige, nüchterne Schlußfolgerungen
, ein wenig Lebenserfahrung und Beziehungen zu ein paar
nicht unbedeutenden Menschen. Das ist alles.
Und mehr kann ich beim besten Willen auch in dem angeblichen
Voigesicht des Herrn von Gillhausen nicht entdecken.
Außer einigen glücklichen Griffen (Rumänien, Amerika, das Jahr
1918 als ein besonder» kritisches ganz allgemein), von denen die
beiden ersten auch nicht gerade gedankenmäßiges Kombinieren
übersteigen, finden sich Voraussagen, die lediglich als Ausfluß
politischer Einsicht und nüchtern klaren Verstandes anzusprechen
sind. Ferner direkte Unrichtigkeiten: das Jahr 1920 als Kriegsende
(oder bloß Waffenstillstand?); und das langsame „Zerrinnen"
des Kaisers scheint auch mehr ein eigentliches Sterben (aus Gram)
zu meinen, denn als das, was tatsächlich geschehen ist. Dann
Bemerkungen wie die von den „Weißen", die in Afrika gegen uns
kämpfen würden — als ob e.s in Afrika keine Weißen gäbe. Der
Todesstoß, der den Engländern in Ägypten und Indien werden
soll, ist noch nicht eingetreten, und der »Streit Rußlands mit
Amerika um den Besitz der Zukunft (wohl über Japan hinweg?)
hat zunächst bloß eine nicht geringe Unwahrscheiniichkeit für
sich. Was endlich das von England ..gestoßene, getretene und
vergewaltigte Frankreich" soll oder auch die „maßlosen Grausamkeiten
" Belgiens, die bekanntlich hauptsächlich in der haßerfüllten
Phantasie der Zeilungsschreiber lebten, ist mir nicht verständlich.
Was gehört zu einer Prophetie oder einem Vorgesicht? Doch
auf jeden Fall eine rätselhafte Souveränität über die Zeit. Das
schauende Vorwegnehmen künftiger Ereignisse in einer bisher
unerklärten Seelenverfassung, für die die gewohnte Funktioi
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0268