http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0307
Seiling: Geburt und Auferstehung Jesu Christi.
303
.icbtbar gewordene sündige Neigung) — Jesu Leib allerdings nur
Mti Seheinleib genannt werden. Einen solchen von allen sündigen
Neigungen ganz? freien Menschen, einen solchen Träger eines
k'heiuleibes, sich als von einer Jungfrau geboren zu denken, ist
)in vortrefflicher Gedanke. Selbst physisch läßt sich davon eine,
wiewohl entfernte Möglichkeit aufzeigen. Gewisse Tiere nämlich
(ich glaube einige Insekten) haben das Eigene, daß die Befruchtung
der Mutter auch auf das Junge und selbst auf dessen Junges
nachwirkt, so daß dieses Eier legt, ohne selbst befruchtet zu sein.
Daß dieses ein einziges Mal beim Menschen eingetreten sei, ist
nicht so unwahrscheinlich zu denken, als daß es einen wirklich
bündcnfreien Menschen gegeben habe, und sobald wir letzteres
annehmend, kann jenes, bei der aller Vernunft unerreichbaren
Harmonie zwischen der Korporisation und dem intelligibeln Charakter
jedes lebenden Wesens und der Erblichkeit vieler Neigungen
und Charaklerzüge, sehr wohl angenommen werden."
Von einem Scheinleib, wie er auch von den Sekten der Do-
keten gelehrt wurde, kann nun allerdings keine Rede ^ein. Dagegen
wird dem von Schopenhauer so treffend hervorgehobenen
Umstand, daß ein sündenloses Wesen nicht in einem gewöhnlichen
, erblich belasteten Leibe wohnen könne, durch jlas tiefsinnige
Dogma von der unbefleckten Empfängnis Rechnung getragen
. Nebenbei bemerkt, die Dogmen der christlichen Religion
eignen sich nach Goethe zu „Gegenständen der tiefsten Philosophie4
*. Nach jenem Dogma ist Maria von ihrer Mutter ohne die
Erbsünde empfangen, wie denn auch schon ihre Eltern, Joachim
und Anna, nach der der Äbtissin von Agreda zuteil gewordenen
Offenbarung von Gott besonders begnadete Menschen wraren.
Die Hauptschwierigkeit liegt vielmehr darin, daß Maria auch nach
der Geburt Jungfrau geblieben ist. Diese Schwierigkeit wird
nun durch die in Rede stehende Offenbarung behoben. Danach
erfolgte die Geburt des Jesuskindes nicht auf gewöhnliche Weise,
sondern entsprechend dem Phänomen der Durchdringung der
Materie. Ohne daß, wie Maria von Agreda schreibt, der jungfräuliche
Schoß geöffnet wurde, ging das Kind, und zwar nur sein
eigentlicher Leib, in kürzester Zeit aus ihm hervor, wie die
Strahlen der Sonne das ,Glas durchdringen, ohne es zu zerbrechen
. Infolge dieses geheimnisvollen Vorganges kamen alle
mit der gewöhnlichen Geburt verbundenen unreinen Nebensächlichkeiten
in Wegfall. Das Kind wurde von zwei materialisierten
Gestalten, welche »die Erzengel Michael und Gabriel gewesen sein
sollen, entgegengenommen und sodann der in knieender Stellung
befindlichen Mutter übergeben.
Zu meiner großen Befriedigung las ich in dem Werke ferner,
daß die Auferstehung Christi sich in ähnlicher Weise vollzogen
hat, wie ich sie mir schon längst erklärt und zuerst in der Zeitschrift
„Die Kritikfifc (1901) u. a. also beschrieben habe: Die
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0307