http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0407
Hänig: Ein Theologe über Theosophie und Hellsehen. 385
einem Mal mit Komplimenten der sinnlichen Welt, das andere aber
mit rein transzendenten Gegenständen zu tun haben. Ob dieser
Unterschied grundsätzlich ist, können wir natürlich nicht sagen,
und es ließe sich von diesem Standpunkte höchstens annehmen,
daß wir es nur mit graduellen Unterschieden zu tun hätten (nach
Aussagen von Hellsehern soll jedes sinnliche Objekt sein Komplement
in der Astralwelt haben, es müßten dann also auch rein
transzendente Objekte von derselben Beschaffenheit für den Seher
in der Astralwelt zu erkennen sein). Aber ein grundsätzlicher
Unterschied ist auch bei dieser Auffassung zwischen niederem
und höherem Hellsehen nicht zu finden, und wir müssen zum
mindesten hier die theoretische Möglichkeit offenlassen, daß tatsächlich
schon bei Lebzeiten Erkenntnisse einer höheren' Welt für
den Menschen möglich sind, wenngleich diese wohl immer individuell
bleiben werden. Der Verfasser kennt deshalb auch nicht
die Versuche über die Photographie der Gedanken (Feerhow: Die
Photographie des Gedankens, M. Altmann, Leipzig), die zur Feststellung
sog. Psychogone geführt haben (Gebilde, die aus seelischer
Energie enftstanden sind), so daß er folgerichtig (S. 67) in
solchen Gedankenfiguren nur Produkte des Unterbewußtsein*
sieht; in Wirklichkeit können sie das natürlich sein, aber der
Perzeptionsakt ist eben erst nachträglich und nicht als Urheber
dieser Produkte zu betrachten, wie auch die Feststellungen durch
die Kilnerschirme gezeigt haben (Feerhow: Die menschliche Aura
und ihre Erforschung).
Von diesem Standpunkte ist auch noch einiges von dem zu beanstanden
, was der Verfasser über Steiner sagt, obwohl er durchaus
die Bedeutung dieser eigenartigen Persönlichkeit zu würdigen
weiß: er ist ihm durchaus der Prophet einer neuen Weltanschauung
, die sich nach Überwindung der kritizistischen zu einer Realität
im höheren Sinne durchzuringen strebt.*) Daß auch die
*) Die bisherigen Versuche, das Steiner-Problem zu lösen, scheitern
m. E. daran, daß sie entweder für oder gegen ihn, aber niemals über
ihn geschrieben worden sind oder daß sie Einzelheiten herausnehmen,
ohne das ganze Lebenswerk genügend gewürdigt zu haben. Wenn
Steiner nur ein Betrüger wäre, wie manche zu glauben scheinen, so
wäre kaum seine machtvolle Stellung möglich, die er heute in Deutschland
haL; wenn er der Prophet wäre, für die ihn seine Anhänger
halten, t»o wäre damit kaum sein Verhalten vereinbar, das er Anhängern
seiner Schule wie Gegnern gegenüber gezeigt hat Auch hier
weist die parapsychische Anschauung die Wege mit der Annahme, daß
wir hier wirklich eine Persönlichkeit mit hellseherischer Begabung
\or uns haben, die aber der Kräfte, die sich dabei aufdrängen (besonders
der Egoismus) nicht immer Herr gewoiden ist. Wo Lieht ist,
da sind auch Schattenseiten — eine Tatsache, die auch sonst in der
Geistesgeschiehte der Menschheit nicht allein steht, indem z. B. an
den berühmten englischen Philologen R. Bentley erinnert werden kann,
dessen Bedeutung ebenfalls nicht durch die Angriffspunkte, die sein
Leben vielfach bietet, vermindert wird. Wenn der Verfasser der vorliegenden
Schrift darauf hinweist, daß sich Anschauungen Steiners
auch bei anderen Theosophen finden, so könnte das ebensogut ein Be-
25
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0407