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v, Mayer: Psychoanalyse und Klarismus
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schaft es nicht sonst stetig posaunte, die Leugnung der Individual-
existonz, und so werden alle individuellen Vorgänge, aus der seelischen
Erlebnislinie herausgerissen, zu blossen „Funktionen" eines grossen
Sammol-X, dem man jede Eigenschaft jedoch sorgfältigst abspricht.
Und wenn die Psychoanalyse nun dieses X nicht Materie oder Energie
nennt, wie die physiko-chemische Wissenschaft, sondern „Libido", so
bleibt sie doch bei der Unterschied- und Eigenschaftlosigkeit dieses
All-eins stehen, rat- und hilflos, Widerspruchs- und verlegenheitsvoll,
blind vor dem eigentlich Seelischen, blind vor dem Erotischen sogar,
das sie doch zum Erklärungsgrundo ausgerufen hatte. Sie musste
blind bleiben, da sie den Idiopsychismus des Daseins, den idiorhyt-
mischen Dynamismus nicht begriff, der den Nerv des klaristischen
Weltbildes darstellt (idio = eigen).
Gewiss: begnügte sich die Psychoanalyse mit der Aufdeckung der
Abhängigkeit der Gehirnzellen von den Geschlechtsorganen, und wollte
sie nichts mehr als em kleiner Zweig der physiko-chemisch-energe-
tischen Forschungen sein, so könnte sie sich ja mit der ethischen Wertlosigkeit
der seelischen Erscheinungen abfinden und jede Willensbeeinflussung
, im individuellen und sozialen, ebenso sehr aufgeben, wie
etwa ein Porseher, der das Syphilisgift aut synthetischem Wege herstellen
würde und dafür danr den grossen goldenen Preis für wissenschaftliches
Verdienst erhielte. Aber die Psychoanalyse, erwachsen
aus der Bekämpfung der Leibes- und Seelennöte, hat sich von vorne
herein auf eine Wertrichtung — Hilfe gegen Leiden — eingestellt
und kann das grosse Torenkredo des „alles ist eins" nicht mehr nachsprechen
; und doch kommt sie noch nicht entschieden darüber hinaus
. Man lese doch in dem ausgezeichneten Werke Wandlungen
und Symbole der Libido" dea hervorragenden Züricher Psychiatern
Jung, wie die Entscheidung aussichtslos hin- und herschwankt: soll
die krankhafte Verdrängung der Libido den genesenden Rückwreg zur
grossen unbewussten Uikraft finden und der Mensch die hemmungslose
Sinnlichkeit des Tiertums wiedergewinnen? — oder aber soll die
Libidoverdrängung gerade die Ueberwindung des Tiertums anbahnen
und durch schmerzhafte Erweckung der Persönlichkeit diese zur Erkenntnis
des „endgültigen *Todesu reifen, zur asketisch-nihilistischen
Zernichtung der All-libido in jedem Einzelnen ihrer funktionellen
Träger?! Ist aber Vernichtung des Persönlichen, die willige Vorbereitung
zum endgültigen Nichtsein, das Ziel, was wäre denn die ärztliche
Hilfe1, als Behinderung des Woltzieles, also ein Unwert?!
oder soll es heissen: rückwärts wie vorwärts geht es zum Nichts,
zum Ueber-nichts des unpersönlichen und unbewussten All-eins? Dann
ist alle psychoanalytische Hilfe ein blosses hohles Spiel, das ein Rad
rechtsum dreht, wro linksum ebenso gut ist. „Coincidentia opposi-
torum" war die scholastische Definition Gottes, und der Eaubmörder
ist da einem Lebensretter gleichwert, nämlich göttliche Voll-emana-
tionen, und jeder Wertunterschied, jede Wahl, jede ethische Leistung
ist beseitigt, denn es zählt nur der Aufwand an Kilogrammometern;
diese scholastisch-biblische Letignung jedes Wertes ist ja nun freilich
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