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Colsman: Jesus
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(Mark. 10, V. 17,18); das war kein „Erlöser durch sein Blut", kein
„Opferlamm Gottes", kein uns Rechtfertigender „allein durch den
Glauben"; das war ein Erdenwanderer, lebend im Geiste seiner
Zeit und seines Volke®, erd- und irrtumbedingt, doch machtvoll
durchpulst von dem Almen und Wissen um himmlische Herrlichkeit
, die er hinter sich ließ und kündend und fordernd nichts als
„das Himmelreich", die Perle und den Schatz der inneren Lebendigkeit
, die Liebe Gottes und der Menschen. — Und so müssen wir
denn freilich ein ganz, ganz anderes Verhältnis zu ihm suchen
und finden. Zunächst: Fühlte sich Jesus Zeit seines Lebens als
Jude, als nichts denn Jude, so werden auch wir uns fühlen dürfen
als Deutsche, als nichts denn Deutsche; doch das ist in dem Verhältnis
zu ihm nicht das Entscheidende. Wohl aber jene innere
Lebendigkeit, jenes Suchen und Streben, jenes Hineinwachsen
in die Gefilde der Be^eeligwng; wer, mit anderen Worten, das
Himmelreich suchte und fand und darin innere Reinheit und
die Liebe, die strömende, selbstlos-opferfreudige Liebe, der ist
wahrlich sein Jünger und Freund, mag er ihn bekennen, ja auch
nur kennen oder nicht; und ihm ist das immer köstlicher erblühende
Heil Gewißheit und unabweisbare Zuversicht. Während
der, der jenes „Himmelreich4' nicht fand und nicht die Liebe, noch
schwere Wege der Läuterung zu gehen haben wird bis zu seiner
einstigen inneren Befreiung und Vollendung. — Im übrigen aber
hat Jesus mit nichten ein Gesetz weder des „Glaubens" noch des
äußeren Verhaltens und Tuns gegeben. Offenbar war er, ich sagte
es schon, in seinen Anschauungen und Zielsetzungen vielfach
bestimmt und bedingt durch seine Zeit und sein Volkstum. Die
Erde war ihm —- ein schönes Bild für die Ptolemäische Weltanschauung
— Gottes Fußschemel und der Himmel sein Thron.
Die Einsicht in das Wesen des Kosmos, die verschwindende Winzigkeit
unserer Erde, wie wir sie heute haben, hatte er, nach seinen
Worten zu schließen, kaum. Und so war auch seine Gottesvorstellung
sowohl wie seine Vorstellung von der eigenen, in Kürze
bevorstehend gedachten Wiederkunft zum Weltgericht in den
Wolken des Himmels getragen und wesentlich bedingt durch dieses
Weltbild und die Anschauungen und volkstümlichen Erwartungen
Heiner Zeit. Und, irre ich nicht, so erklärt sich daraus auch
manches in seiner weitabgewandten Ethik, wie sie vor allem in
der Bergpredigt zum Ausdrucke kommt, in dean Gebot, nicht denn
Übel zu widerstehen und ähnlichem. Denn es ist doch klar, daß,
wenn er glaubte, der Tag des Weltgerichtes sei nahe herbeigekommen
(und an solchem seinem Glauben kann nach den zahlreichen
übereinstimmenden Aussprüchen, die ich oben nachwies, kein
Zweifel sein), daß er dann eine ganz andere Ethik aufstellen
mußte, als wenn er voraussah, daß die Menschen noch Jahrtausende
, ja vielleicht Jahrmillionen sich fortzupflanzen und -entfalten
, zu kämpfen, zu leiden und sich zu entwickeln und vollenden
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